| Pressemeldung | Nr. PRD 013c

Zeit für Familie!

Fachtagung zur Vorbereitung des Siebten Familienberichts am 11. Februar 2004 in Berlin
Vortrag von Professor Dr. Arno Anzenbacher (Mainz), Ordinarius für Christliche Sozialethik

Sozialethische Überlegungen zur Zukunft der Familie
Dass dem sozialen Teilsystem Familie eine gesamtgesellschaftlich unverzichtbare Funktion zukommt, ist weitgehend unbestritten. Die Reproduktion der Gesellschaft, die Pflege und Erziehung der Kinder, die Kohäsion und emotionale Stabilisierung der Familienmitglieder, die Haushaltsführung mit ihren ökonomischen, gesundheits- und erholungsorientierten Implikationen sowie die von der Kernfamilie ausgehenden solidaritätsstiftenden und wechselseitig hilfestellenden Vernetzungen im verwandtschaftlichen und nachbarschaftlichen Bereich, vor allem auch zwischen den Generationen, man denke an die familial geleistete Pflege, das alles sind spezifisch familiale Leistungen, von denen die humane Lebbarkeit der Gesellschaft maßgeblich abhängt. Das soziale Kapital der Gesellschaft, ihr Humanvermögen, wird in familialer Vermittlung grundgelegt; seine Qualität, sowohl im Blick auf lebenslange Bildungsprozesse, als auch hinsichtlich dessen, was wir "Herzensbildung" nennen können, hängt nicht zuletzt vom Gelingen dieser ursprünglichen Sozialisation ab. Ausserdem konfrontiert uns die demographische Entwicklung zunehmend mit der Brisanz der an sich trivialen Tatsache, dass auf Dauer nur ein Kinderland ein Vaterland sein kann.
I.
Diese gesamtgesellschaftlich zentrale Rolle des familialen Teilsystems kontrastiert allerdings mit der Tatsache, dass die konkrete Familie, in der das Teilsystem faktisch existiert, als kleine soziale Gruppen außerordentlich verletzlich und auf Grund vielfältiger Abhängigkeiten in ihrer Funktionalität gefährdet ist. Das gilt einerseits auf Grund ihrer strukturellen Einbettung in das Gefüge der anderen Teilsysteme, etwa der Wirtschaft, der Politik und des Bildungssystems, worauf sich die Rede von der "strukturellen Rücksichtslosigkeit" bezieht. Das gilt aber andererseits auch auf Grund der Probleme, die als Rollen-, Beziehungs- und Bindungsprobleme im Binnenraum der Familie selbst virulent sind und sich nicht auf diese strukturelle Rücksichtslosigkeit reduzieren lassen. Aus der Sicht des Ethikers geht es insofern um die Verschränkung zweier Aspekte, des sozialethischen, der die Gerechtigkeit im strukturell-institutionellen Bereich thematisiert, und des individualethischen, der sich auf die Beziehungen der Personen bezieht, die familial zusammenleben, auf ihre Motivationen, Präferenzen, Handlungsmaximen und moralischen Einstellungen.
In dieser komplexen Verschränkung stellt sich auch die Frage nach der familial verfügbaren Zeit. Einerseits handelt es sich dabei um die Zeit, die Frauen und Männer in ihrer biographischen Lebensplanung überhaupt für Familiengründung vorsehen und sich tatsächlich nehmen, etwa angesichts der Tatsache, dass heute in Deutschland rund ein Drittel der Frauen kinderlos bleibt. Andererseits geht es um die Zeit, die in den Familien für die genannten familienspezifischen Leistungen zur Verfügung steht bzw. aufgewendet wird, wobei natürlich die Zeit, die diese Leistungen beanspruchen, je nach der Familienphase und den besonderen Umständen stark variiert.
II.
Für eine sozialethische Überlegung zu Fragen der Ermöglichung und Organisation familialer Zeit legt es sich nahe, vom Argumentationsmuster des Subsidiaritätsprinzips auszugehen, in welchem es um die Allokation der Zuständigkeiten in komplexen Gesellschaften geht. Das Prinzip besagt erstens, dass Gesellschaftstätigkeit nie Selbstzweck, sondern grundsätzlich subsidiär, also hilfestellend ist, da ihr Zweck letztlich kein anderer sein kann als das Wohl der vergesellschafteten Personen. Es besagt zweitens, dass für die Zuordnung der Zuständigkeiten zwischen Personen und einander über-, neben- und untergeordneten sozialen Gebilden zwei normative Grundsätze gelten sollten. Der erste Grundsatz ist das Hilfestellungsgebot, von dem das Prinzip seinen Namen hat. Es besagt, dass den je größeren und übergeordneten Sozialgebilden gegenüber den kleineren und untergeordneten eine Verpflichtung zur Hilfestellung zukommt, damit die je kleineren Sozialgebilde dauerhaft ihre Zuständigkeiten wahrzunehmen vermögen.
Der zweite Grundsatz ist das Kompetenzanmaßungsverbot. Es verbietet, dass die soziale Sphäre den Personen Zuständigkeiten entzieht, die diese aus eigenen Kräften wahrnehmen können, und es verbietet außerdem, dass je größere, übergeordnete Sozialgebilde den kleineren, untergeordneten derartige Zuständigkeiten entziehen. Otfried Höffe fasst das Prinzip so zusammen: "Keine Zuständigkeit darf höher als nötig angesetzt werden; was das Individuum vermag, darf nicht von der Gemeinschaft beansprucht werden; und was die kleinere Sozialeinheit vermag, darf ihr die größere nicht entziehen." Das Prinzip lässt sich, wie ich meine, gut auf die Frage nach der Ermöglichung und Organisation der familial erforderlichen Zeit beziehen.
III.
Das Problem der Allokation von Zuständigkeiten in der familialen Zeitorganisation konfrontiert uns zunächst mit einer außerordentlich komplexen Sachlage, die sich in den konkreten familialen Kleingruppen höchst unterschiedlich ausprägt. Die Ausgangslage lässt sich etwa so skizzieren: Da die bildungs- und ausbildungsbedingte Qualifikation längst nicht mehr geschlechtsspezifisch different ist, haben Frauen und Männer vergleichbare Berufsoptionen. Frauen beanspruchen eine ebenso eigenständige Berufsbiographie, wie sie Männern traditionell eingeräumt ist. Von der Realisierung dieser Optionen in Erwerbsarbeit hängt maßgeblich der ökonomische Lebensstandard ab. Das Rollenproblem der Geschlechter ist im Rahmen der unbestrittenen rechtlichen Gleichstellung weitgehend ungelöst. Es wird zumeist mit der Ankunft des ersten Kindes virulent und muss zwischen den Eltern ausgehandelt werden. Als Zeitproblem ist das Rollenproblem von der Tatsache betroffen, dass Familienarbeitszeit im Vergleich zur Erwerbsarbeitszeit ökonomisch kaum entlohnt, gesellschaftlich wenig geschätzt wird, in der Berufsperspektive oft mit Dequalifizierung und Minderung der Chancen verbunden ist und sich in der Altersversorgung nachteilig auswirkt. Jeder Verzicht auf Erwerbsarbeit zugunsten der Familienarbeit bedeutet in der Regel einen finanziellen Verlust, oft den des zweiten Einkommens, und das bei steigenden Kosten etwa angesichts des erhöhten Wohnraumbedarfs. In dieser Logik werden Kinder in Schichten mit geringerem Einkommen unvermeidlich zum Armutsrisiko. Aus ökonomischer Sicht ist es ein Ratschlag der Klugheit, kinderlos zu bleiben bzw. den familialen Zeitaufwand zu minimieren, da das Gefüge der sozialen Teilsysteme die Familie eindeutig pönalisiert.
Diese allgemeine Ausgangslage variiert in ihren Auswirkungen allerdings stark mit den besonderen Umständen, in denen Familien leben. Das gilt etwa hinsichtlich der unterschiedlichen Familienformen, je nach dem, ob es sich um die nach wie vor dominante Ehegattenfamilie handelt, um eine nichteheliche familiale Gruppe, eine Alleinerzieherfamilie oder eine Stieffamilie. Selbstverständlich spielt auch die Kinderzahl eine zentrale Rolle, aber auch die Beanspruchung der Familie, zumeist der Frau, durch häusliche Pflege. Unterschiede ergeben sich auch aus den diversen Optionen, Erwerbsarbeit und Familienarbeit miteinander zu vereinbaren, je nach dem ob eher eine uneingeschränkt simultane Vereinbarkeit angestrebt wird oder eine phasenorientiert sukzessive bzw. eine (durch Teilzeitarbeit) eingeschränkt sumultane. Diese Varianten der familialen Zeitorganisation hängen außerdem oft zusammen mit den besonderen sozialen Kontexten der Kernfamilie, etwa vom familialen Engagement von Großeltern und anderer Verwandter, von der Verfügbarkeit von Tagesmüttern und geeigneter Betreuungseinrichtungen, vom Zustandekommen familial orientierter Netzwerke etwa in Form von Elterninitiativen, Mütter- und Familienzentren, Mutter-Kind-Gruppen etc. Von großer Bedeutung ist auch die Frage, ob die wirtschaftlichen Unternehmen vor Ort und die öffentlichen Hände als Arbeitgeber bestrebt sind, Erwerbsarbeit familienorientiert zu gestalten, wie das, wenn auch erst in geringem Ausmaß, bereits geschieht, oder ob sie ohne Rücksicht auf die familiale Situation der Mütter und Väter ein Maximum an unternehmensorientierter Flexibilität, Mobilität und beruflichem Engagement fordern. Zudem stellen sich die Fragen der familialen Zeitorganisation noch einmal je unterschiedlich in einem großstädtischen und in einem kleinstädtischen oder ländlichen Wohnumfeld.
Zu dieser Vielfalt der Umstände kommt aber noch ein weiterer Gesichtspunkt. In den früheren Familienformen, etwa im bäuerlichen Haus der Agrargesellschaft oder in der bürgerlichen Familie der Industriegesellschaft, sorgten tradierte Rollenfixierungen und soziale Kontrolle für ein hohes Maß einheitlicher, rechtlich abgesicherter Reglementierung. Die Eheleute traten als Mütter und Väter in feststehende, fast schablonenartig vorgegebene familiale Funktionen. Dagegen bewirkte der soziale Wandel in den letzten Jahrzehnten einen enormen Schub in Richtung Pluralisierung und Individualisierung auch und gerade bezüglich der familial relevanten Orientierungen, Motivationen und Präferenzen. Natürlich wird man angesichts dieser Entwicklung aus der Sicht einer christlichen Sozialethik bestimmte Akzente setzen, vor allem den, dass die auf Dauer gestellte Ehegattenfamilie grundsätzlich eine Konstante christlich verstandener Humanität darstellt und andere Familienformen im Vergleich dazu immer in gewisser Hinsicht defizient sind und darum als solche nicht intendiert werden sollten. Aber einerseits ist auch diese vollständige Familienform offen für vielfältige Interpretationsmöglichkeiten und andererseits ist sie im gesamtgesellschaftlichen Pluralismus der Orientierungen längst nicht mehr die einzige akzeptierte Familienform.
Dabei stellt sich folgende Frage: Sind alle praktizierten, vorgeschlagenen oder propagierten Varianten der familialen Zeitorganisation, insbesondere alle Varianten der außerhäuslichen Kinderbetreuung in den diversen Altersstufen der Kinder vom Säugling bis zum Schulkind, im Hinblick auf das Kindeswohl als gleichwertig zu betrachten? Stellt die ganztägige außerhäusliche Betreuung der Kleinstkinder in Kinderkrippen und Krabbelstuben tatsächlich eine äquivalente Alternative dar zur familialen Betreuung? Die humanwissenschaftlichen Antworten scheinen eher kontrovers und keineswegs so eindeutig zu sein, dass die Frage als geklärt gelten kann. Oft hat man den Eindruck, dass die humanwissenschaftliche Forschung, so empirisch sie auch sein mag, nicht jenseits aller Hermeneutik betrieben wird, sondern dass in ihre theoretischen Zugriffe Vorverständnisse und Einstellungen einfließen, die nicht ohne Bedeutung für die Resultate sind. Damit aber bleibt das Problem letztlich doch eine Gewissensfrage der Eltern und ihre Beantwortung hängt von deren Orientierungen, Präferenzen und Einstellungen ab, ganz abgesehen davon, dass das zeitintensive, fördernde und betreuende Miterleben der frühen Entwicklung eigener Kinder als etwas Faszinierendes und Erfüllendes erfahren werden kann, als vita activa im Sinne von Hannah Arendt, also als ein Tätigsein, das sich im Unterschied zur ökonomischen Produktion "direkt zwischen Menschen abspielt".
Die Fragen, wie Familie konkret zu gestalten, das familiale Rollenproblem der Geschlechter konkret zu lösen und im Zusammenhang damit die Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit zu verwirklichen ist, verweisen angesichts dieser Komplexität zunächst auf die Familie selbst und die maßgeblichen Orientierungen der familial zuständigen Personen. Als grundlegendes Modell kann hier nur das Vertragsmodell in Frage kommen. Die Partner müssen im Sinne ihrer Orientierungen die für sie verantwortbare und praktikable Antwort miteinander aushandeln und finden. Das mag im konkreten Fall schwierig und konfliktträchtig sein. Prinzipiell aber handelt es sich um einen an sich begrüßenswerten Freiheitsgewinn, um einen Spielraum familialer Autonomie im Rahmen der gesetzlich festgelegten rechtlichen Grenzen. Diese Autonomie ist auch familienpolitisch anzuerkennen und sollte nicht durch familienpolitische Maßnahmen unterlaufen werden. In Auslegung von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG betonte darum das Bundesverfassungsgericht 1998, der Staat habe "die Familiengemeinschaft sowohl im immateriell-persönlichen als auch im materiell-wirtschaftlichen Bereich in ihrer jeweiligen eigenständigen und selbstverantwortlichen Ausgestaltung zu respektieren".
IV.
Wir skizzierten die Komplexität, in der sich das Problem der familialen Zeitorganisation stellt, einerseits von der Vielfalt und Verschiedenheit der möglichen Varianten und äußeren Umstände her und andererseits im Blick auf die Pluralität der innerfamilialen Orientierungen, Präferenzen und Einstellungen. Angesichts dieser Sachlage scheint es sich in der Perspektive des Subsidiaritätsprinzips nahe zu legen, die Zuständigkeit für die familiale Zeitorganisation so weit wie möglich bei der Familie selbst zu allozieren und gegenüber den übergeordneten sozialen Gebilden, auch gegenüber der Familienpolitik, auf die Respektierung des Kompetenzanmaßungsverbots zu insistieren. Wie die familial notwendige und wünschenswerte Zeit etwa gegenüber der Erwerbsarbeitszeit zu bemessen und zu organisieren ist, hängt von den je unterschiedlichen Gegebenheiten ab und lässt sich nicht generell, sondern nur konkret bestimmen.
Damit ergibt sich für das Hilfestellungsgebot des Subsidiaritätsprinzips folgende Konsequenz: Die Hilfestellung seitens der anderen Teilsysteme sollte so erfolgen, dass sie die autonome Entscheidungskompetenz der Familie nicht beeinträchtigt, sondern anerkennt und unterstützt. Sie sollte also den Familien eine Pluralität von Varianten der Zeitorganisation eröffnen, unter denen die konkret passende bzw. die seitens der Eltern bevorzugte frei gewählt werden kann. Dabei darf die familiale Wahlfreiheit nicht formal bleiben, sondern die Hilfestellung sollte gerade darin bestehen, dass die Varianten faktisch ermöglicht, also ohne unzumutbare ökonomische oder sonstige Nachteile realisiert werden können und so echte Verwirklichungschancen familialer Freiheit darstellen.
So gesehen kann die Aufgabe familienpolitischer Hilfestellung nicht darin bestehen, einseitig eine bestimmte Variante zu präferieren und mit den vorhandenen knappen Ressourcen zu fördern, z.B. eine möglichst voll simultane Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit durch ein möglichst umfassendes Betreuungsangebot von der Kinderkrippe bis zur Ganztagsschule in möglichst unentgeltlichen öffentlichen Einrichtungen. Denn eine solche einseitige familienpolitische Bevorzugung und Förderung dieser einen Variante liefe auf die indirekte Pönalisierung anderer Varianten hinaus. Das aber hätte vor allem für die unteren Einkommensschichten die Konsequenz, dass andere Varianten faktisch nicht mehr oder nur mit größten Schwierigkeiten gewählt werden könnten. Der Steuerungseffekt einer derartigen Familienpolitik hätte die Tendenz, das Kompetenzanmaßungsverbot bzw. die familiale Autonomie zu unterlaufen. Dabei möchte ich weder die Dringlichkeit einer verbesserten Vereinbarkeit von Familien- und Berufsarbeit noch den Bedarf an geeigneten Betreuungseinrichtungen in Frage stellen, sondern lediglich die Tendenz, durch familienpolitische Weichenstellungen die Zuständigkeit der Familie zu beschränken, ihre Zeitorganisationsprobleme eigenverantwortlich zu lösen. Auch in Zukunft sollte, vor allem im Fall einer größeren Kinderzahl, die Variante der hauptberuflichen Hausfrau und Mutter ohne Diskriminierung wählbar sein.
V.
Werfen wir einen kurzen Blick auf einige zentrale Probleme der familialen Zeitorganisation! Die Schwierigkeiten, die ihrer Lösung entgegenstehen, hängen zu einem großen Teil mit dem Sachverhalt zusammen, den Jürgen Habermas als "Kolonialisierung der Lebenswelt" charakterisiert, d.h. als die zunehmende Prägung unserer Lebenskontexte durch die Autopoiesen der anderen Teilsysteme. Diese setzen zwar die familialen Leistungen voraus, behandeln jedoch die dazu erforderliche Zeit gewissermaßen wie ein schwarzes Loch oder einen Fremdkörper, der anderweitig verwertbare Zeit ohne marktrelevanten Nutzen im ökonomischen Abseits verbraucht. Dabei bleibt oft unbeachtet, dass unsere Gesellschaft sich ein immenses Reservoir ungenutzt brach liegender Zeit leistet, nämlich die Massenarbeitslosigkeit.
Ein wichtiges Problem der familialen Zeitorganisation betrifft die Tendenz, den Zeitpunkt der Familiengründung bzw. der ersten Geburt immer weiter, oft weit ins dritte Lebensjahrzehnt hinaus zu schieben, ihn also an den Rand der biologisch günstigen Fruchtbarkeitsphase zu rücken, was oft - aus welchen Gründen immer - letztlich zu Kinderlosigkeit führt. Prof. Bertram hat darauf hingewiesen, dass diese Tendenz sowohl mit der Dauer als auch mit der starken Kontinuitätsstruktur des Bildungs- und Ausbildungssystems zu tun hat, das zusammen mit der Phase der beruflichen Etablierung einen langen, die Lebensplanung bestimmenden biographischen Zeitraum bildet, der sich nur schwer ohne beträchtliche Nachteile unterbrechen lässt. Ich kann mich seiner Empfehlung nur anschließen, dass versucht werden sollte, die Struktur dieses Zeitraums so aus- und einstiegsfreundlich zu gliedern, dass praktikable familiale Zwischen- zeiten möglich werden. Gefordert ist hier einerseits die Bildungspolitik, andererseits aber auch die Wirtschaft.
Von zentraler Bedeutung für die Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit ist es, einen Ausweg aus dem Wertdilemma zu finden, das in der prinzipiellen Gegenläufigkeit besteht zwischen der ökonomische Logik der Arbeitswelt und jener des familialen Lebens. In der Regel wirkt sich dieses Dilemma zulasten der Familie aus. Ein Ausweg aus diesem Dilemma kann letztlich nur in einer stärkeren Familienorientierung der Erwerbsarbeit liegen, also darin, dass sich mehr Unternehmen, aber auch die öffentliche Verwaltung, dem Anliegen einer familienbewussten Personalpolitik öffnen. Beispielhafte Initiativen gibt es, etwa die gemeinnützige Beruf & Familie GmbH, die familienorientierten Unternehmen auf Grund strenger, regelmäßig überprüfter Kriterien Zertifikate ausstellt. Dabei geht es z.B. um familien- und nicht nur unternehmensorientierte Zeitflexibilität und Mobilität, um Vorkehrungen für Qualifikationserhalt und Qualifikationsausbau im Fall des zeitweisen familienbedingten Ausscheidens, um Anerkennung und Nutzung familial gewonnener Kompetenzen und um die Bereitstellung betrieblicher Kinderbetreuungseinrichtungen. Unternehmen, die - durchaus aus wohlverstandenem personalpolitischem Eigeninteresse - eine derartige Familienorientierung praktizieren, stellen jedoch nach wie vor eine Minderheit dar. Aber nicht nur die Unternehmen sind hier gefordert. Auch die Gewerkschaften sollten über die allgemeinen Interessen der Arbeitnehmer hinaus, auch deren familiale Interessen vertreten und sie in Tarifverhandlungen thematisieren. Da die Forcierung der Familienorientierung der Wirtschaft unumgänglich ist, ist es auch Aufgabe der Politik bzw. des Gesetzgebers, subsidiär durch entsprechende Rahmenordnungen und Maßnahmen gestaltend mitzuwirken.
Angesichts der Tatsache, dass Kinder für untere Einkommenschichten nach wie vor ein Armutsrisiko darstellen und Familien im Vergleich zu Kinderlosen ökonomisch massiv benachteiligt sind, ist eine familienfreundliche Zeitorganisation wesentlich auch eine Frage des familiengemäßen, bedarfsgerechten Einkommens, das über das Erwerbseinkommen der Eltern hinaus die Leistungen der Familie für die Gesellschaft anerkennt und honoriert. Ich gehe hier nicht auf die speziellen Fragen der Steuergerechtigkeit und des Familienleistungsausgleichs ein. Prinzipiell stimme ich der gerechtigkeitstheoretischen Argumentation von Angelika Krebs zu: Jene Familienarbeit begründet gegenüber der Gesellschaft einen Anspruch auf Honorierung bzw. Entgelt, die, wenn sie nicht familial erbracht würde, durch die Gesellschaft substituiert und geleistet werden müsste. Ein solcher Substitutionsbedarf bestünde zweifellos einerseits für die Betreuung und Erziehung von Kindern und andererseits für die Pflege kranker oder alter Menschen. Die dafür aufgewendete Familienarbeitszeit ist durchaus kommensurabel mit jener Erwerbsarbeitszeit, die in außerhäuslichen Betreuungs-, Erziehungs- und Pflegeeinrichtungen erbracht wird. Ein umfassender Familienleistungsausgleich müsste diesen Zusammenhang voll berücksichtigen.
Angesichts der skizzierten Komplexität, in der sich die Fragen der familialen Zeitorganisation vor allem im Blick auf die Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit stellen, ist im Bereich der Betreuung und Erziehung der Kinder ein vielfältiger Mix aus hilfestellenden Angeboten, ein Ineinandergreifen von privater und öffentlicher Verantwortung wünschenswert, damit die je besondere Lage der konkreten Familie berücksichtigt werden kann. Im Sinne des Kompetenzanmaßungsverbots des Subsidiaritätsprinzips sollten insofern die familienpolitisch verfügbaren finanziellen Mittel möglichst bei den Familien selbst alloziert werden. Sie sollen entscheiden können, wieweit sie diese Mittel selbst verwenden, um Betreuungs- und Erziehungsarbeit innerfamilial zu leisten, wieweit sie diese zur Finanzierung außerhäuslicher Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen oder für Tagesmütter einsetzen oder wieweit sie diese Mittel aufwenden wollen zum eigenverantwortlichen Aufbau zivilgesellschaftlicher familialer Elterninitiativen, Gruppen und Netzwerke. Denn die Klientelisierung der Eltern im Rahmen professioneller Dienste und Einrichtungen sollte nicht zur alternativlosen Bedingung der Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit werden. Ein bedarfsgerechtes Angebot an möglichst zeitflexiblen Einrichtungen ist zweifellos wichtig und geboten. Es ist aber nur ein Teil im Mix wünschenwerter Angebote und sollte darum nicht einseitig und schon gar nicht exklusiv gefördert werden.
Die familiale Zeitorganisation hängt hinsichtlich der Verteilung der Familienarbeitszeit und der Zuordnung von Familien- und Erwerbsarbeit zumeist eng zusammen mit der Frage, wie in der konkreten Familie das Rollenproblem der Geschlechter gelöst wird. Ich wies bereits darauf hin, dass ich in dieser Frage keine Alternative zum Vertragsmodell sehe, in welchem sich die Partner selbst auf die für sie praktikable Lösung einigen. Das heißt aber zugleich, dass es nicht Sache der Politik sein kann, in dieser Frage über die unbestrittene rechtliche Gleichberechtigung von Frau und Mann hinaus eine gesellschaftlich verbindliche Definitionsmacht ihrer familialen Rollen zu beanspruchen und zu versuchen, diese familienpolitisch durchzusetzen. Eine egalitaristische Rollenfixierung kann ebenso repressiv sein wie eine differenzielle. Die Geschlechterdifferenz lässt sich in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht definitorisch auf den Begriff bringen, schon gar nicht durch die Politik. Wie egalitär oder differenziell Personen ihr Frausein und ihr Mannsein, ihre Mutterschaft und ihre Vaterschaft verstehen, ist jeweils ihre Sache und familial Sache ihrer Vereinbarung. Die Varianten, die sich daraus ergeben, sind grundsätzlich zu respektieren.
Im Hintergrund dieser Probleme steht immer auch die Frage nach dem Ansehen bzw. der Wertschätzung der Familienarbeit und der dafür erforderlichen Zeit im Bewusstsein der Öffentlichkeit. Angesichts der gesamtgesellschaftlichen Unverzichtbarkeit der spezifisch familialen Leistungen ist zweifellos eine Aufwertung anzustreben, welche die familiale Arbeit ebenso als berufliche und sozial wertvolle Arbeit anerkennt wie die Erwerbsarbeit. Eine solche Aufwertung der familialen Zeit hängt nicht zuletzt von dem Image ab, das in den Medien verbreitet wird. Aber auch die Bildungspolitik könnte dazu, etwa über die Schulen, einen Beitrag leisten.
Ich weise zum Schluss nochmals darauf hin, dass es jenseits der strukturellen Fragen der familialen Zeitorganisation, die wir sozialethisch beleuchteten, auch zentrale individualethische Probleme gibt, die sich nicht auf die strukturellen reduzieren lassen, so sehr sie von diesen auch beeinflusst sein mögen. Es geht dabei um die individuellen Präferenzen, die moralischen Einstellungen und die Wertorientierungen der Personen, die über die Gründung einer Familie entscheiden bzw. familial zusammenleben. Gelingendes Familieneben setzt dauerhafte Bindungs-, Beziehungs- und Konfliktfähigkeit sowie die Bereitschaft voraus, langfristig, verlässlich und fürsorglich Verantwortung für Menschen zu übernehmen, für Kinder und Partner. Je unverbindlicher und brüchiger die Beziehungen der Partner sind, je stärker Individualisierung die Solidarität blockiert, desto riskanter werden Lebenspläne, die Zeit für Familie vorsehen. In diesem Sinne hat der große französische Philosoph Paul Ricoeur sicher Recht mit dem Wort, die Ehe bleibe "die höchste Wette unserer Kultur".

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