| Pressemeldung

Wunden heilen

Predigt von Friedrich Kardinal Wetter, Erzbischof von München und Freising, bei der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz im Hohen Dom zu Fulda am Mittwoch, 26. September 2001

Die Terroranschläge am 11. September haben die Welt erschüttert. Wir denken an die vielen Toten, ihre Angehörigen und Freunde, die um sie trauern, und an die Verletzten, die mit dem Leben davonkamen.
Was in der vorletzten Woche in New York und Washington geschah, hat unzählige Wunden geschlagen, Wunden des Leibes und noch viel mehr Wunden der Seele, auch bei uns. Mit den beiden Türmen in Manhatten sind auch bei uns Hoffnungen auf eine friedliche Zukunft eingestürzt und Ängste aufgebrochen. Soll der 11. September der Auftakt ins neue Jahrtausend sein? Wir alle sind mitgetroffen. Die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon waren auch Anschläge auf die offene, freiheitliche Gesellschaft, ja auf die Würde des Menschen. Wo finden wir Heilung für diese Wunden, die der Terrorismus geschlagen hat? Wer gibt uns Sicherheit, dass nicht neue Wunden geschlagen werden?
Gespannt schauen die Menschen auf die Vereinigten Staaten von Amerika, wo militärische Aktionen vorbereitet werden. Ein Staat hat die Pflicht, für die Sicherheit seiner Bürger zu sorgen und sie vor Terroranschlägen zu schützen. Wenn es nicht anders geht, darf er gegen die Terroristen auch Gewalt anwenden. Dazu verfügt er über die Staatsgewalt. Gegen Terroristen und ihre Unterstützer muss entschlossen vorgegangen werden, aber mit Klugheit, Augenmaß und großem Verantwortungsbewusstsein, damit Unrecht nicht mit Unrecht beantwortet wird. Denn Vernichtungsschläge, die auf Menschen zielen, die mit dem Terror und seiner Unterstützung nichts zu tun haben, sind Unrecht, - gleich von wem sie begangen werden. Rache, Hass, Vergeltung dürfen keinen Platz haben. Was sie bewirken, wurde der Welt am 11. September vor Augen geführt: Tod und Verderben.
Hass, Rache, Vergeltung sind mit der Würde des Menschen nicht vereinbar: sie verletzen die Menschenwürde der Opfer, und der Täter verletzt auch seine eigene Würde; denn Hass und Rache sind unter der Menschenwürde.
Hier stellt sich eine weitere Frage: So wichtig es ist, dem Terror auch mit Gewalt Einhalt zu gebieten, kann man damit die Wunden heilen, die geschlagen wurden, und verhindern, dass neue geschlagen werden? Muss dazu nicht noch etwas anderes geschehen? Wunden kann man von außen behandeln, aber sie heilen nur von innen.
In seinem Buch "Das Prinzip Verantwortung", in dem sich Hans Jonas mit den Spannungen, Widersprüchen und Wunden der menschlichen Gemeinschaft befasst, schreibt er: "Die Frage ist, ob wir ohne Wiederherstellung der Kategorie des Heiligen, die am gründlichsten durch die wissenschaftliche Aufklärung zerstört wurde, überhaupt eine Ethik haben könne, welche die extremen Kräfte, die wir heute besitzen, zügeln kann." Hellsichtig weist er darauf hin, worauf es ankommt. Er spricht die Ethik an, und damit das Innere des Menschen, aus dem das Gute wie das Böse hervorgeht. Und er fordert die Wiederherstellung der Kategorie des Heiligen; d. h. doch im Klartext, dass der Mensch sich vor Gott zu verantworten habe.
Hans Jonas ist kein Christ, er ist Jude. Wie das, was er sagt, christlich aussieht, zeigen uns die Heiligen des heutigen Tages Kosmas und Damian. Beide sind Ärzte, die Krankheiten und Wunden heilen wollen. Und beide sind Märtyrer, Menschen, die mit ihrem Blut Zeugnis für den heiligen Gott gegeben haben. Für sie war Gott die Wirklichkeit, die ihr ganzes Leben geprägt und geformt hat. Sie haben die Welt und ihr eigenes Leben im Lichte Gottes gesehen.
Dieser Tage war zu hören, mit dem 11. September sei alles anders geworden. Gemeint war damit, es habe sich alles zum Schlimmeren gewandelt. Dem möchte ich die Aussage gegenüberstellen: Sobald Menschen ihr Leben auf Gott hin ausrichten und sich an ihm festmachen, wird alles anders. Da werden Kräfte frei, die die Welt verwandeln, und zwar zum Guten verwandeln. Der erste Blutzeuge der Kirche, Stefanus, bittet für seine Mörder um Vergebung. Und in unserer Zeit geht Maximilian Kolbe für einen anderen in den Tod. Und Edith Stein entwickelt auf dem Weg in die Gaskammer nach Auschwitz eine erstaunliche Liebestätigkeit und lässt das Licht der Liebe unter den Todgeweihten aufleuchten. Diese Märtyrer sind transparent geworden für die heilende Kraft der Liebe.
Nicht mit Gewalt wollten sie ihrer Botschaft zum Durchbruch verhelfen, sondern durch die Gewaltlosigkeit der Liebe. Sie stehen damit in der Nachfolge Jesu, der sich ans Kreuz hat schlagen lassen und dort noch seinen Mördern verziehen hat.
Gerade durch das Kreuz seines Sohnes zeigt uns Gott, wie er die Welt in Ordnung bringt und die Wunden, die menschliche Bosheit schlägt, heilt: nicht mit Gewalt, sondern mit Verzeihen und Liebe.
Manchmal greift Gott auch zur Strafe, um die Menschen zur Umkehr zu bewegen. So hat er sogar Jerusalem und seinen Tempel zerstören lassen und das Volk in das Exil nach Babylon geschickt. Aber dies diente dazu, sein Volk zur Besinnung zu bringen. Sie sollten umkehren, nicht auf ihre eigene Macht vertrauen, sondern sich ihm zuwenden, damit er ihnen aufs neue seine Liebe schenken konnte.
Wunden werden von außen behandelt, heilen aber müssen sie von innen. Machen wir darum Gottes Tun zum Maßstab unseres Handelns. Beten wir, dass nach dem Entsetzen über den Terror nicht Rache und Vergeltung hochkommen und die Gewalt nicht das letzte Wort hat und nicht neue Wunden geschlagen werden, sondern das Bemühen um Gerechtigkeit, Friede und Versöhnung, so unglaublich das angesichts der grausamen Attentate auch klingen mag. Sonst ist keine Heilung der tiefen Wunden der Menschheit zu erwarten. Und seien wir selbst Menschen, durch die das Licht der heilenden Liebe Gottes in unsere Welt hereinstrahlt. Amen.

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