| Pressemeldung

Wort der deutschen Bischöfe zum Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 50 Jahren

1945 - Zwischen Schrecken und Hoffnung
Das Jahr 1995 steht im Zeichen des Gedenkens an das Kriegsende vor 50 Jahren. Viele Menschen und Völker blicken auf die Ereignisse des Jahres 1945 zurück, das hinter schrecklichen Geschehnissen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft der Welt aufscheinen ließ. Auch in unserem Land richten sich die Gedanken erneut auf dieses Jahr, das die Grausamkeit und Unmenschlichkeit des Krieges auf eine letzte Höhe trieb, bevor es den Weg für die Suche nach einem Neuanfang der Völker freigab.

Es sind furchtbare Bilder, die uns in der Erinnerung vor Augen treten und im Rückblick das ganze Ausmaß des Schreckens deutlich machen:

-    Der Versuch der nationalsozialistischen Machthaber, das eigene Volk am Ende eines "totalen Krieges" mit in den Untergang zu ziehen, kostete zahllose Soldaten auf allen Seiten das Leben und riß auch die Zivilbevölkerung mit in den Strudel eines sinnlosen Leidens und Sterbens.
-    Die auf Zerstörung und Vernichtung zielende Bombardierung deutscher Städte forderte sogar noch in den letzten Monaten vor der Kapitulation der deutschen Wehrmacht ungezählte Opfer, unter ihnen viele alte Menschen, Frauen und Kinder. Unschätzbare Kulturgüter gingen für immer verloren.
-    Die Kriegshandlungen waren, vor allem in den deutschen Ostgebieten, von Grausamkeiten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begleitet, deren Opfer wieder alte Menschen, Frauen und Kinder wurden.
-    Fast 12 Millionen Deutsche mußten vor der heranrückenden Front fliehen oder wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Mehr als zwei Millionen von ihnen fanden im Verlauf oder in der Folge dieser Ereignisse den Tod. Ungezählte waren durch Verwundung und Krankheit für ihr Leben gekennzeichnet; Kriegsgefangene wurden noch auf Jahre in Zwangsarbeit zurückgehalten; das Schicksal ungezählter Vermißter blieb ungeklärt.


Zugleich werden aber auch andere Erinnerungen wach, die das Leiden und die Opfer unserer Nachbarvölker sowie der von den Nationalsozialisten verfolgten Personen und Gruppen ins Bewußtsein rufen und die zur Zeit ihres Geschehens einem Großteil der deutschen Bevölkerung in ihrem wirklichen Ausmaß unbekannt waren:

-    Die von der deutschen Aggression erfaßten Nachbarländer waren von Tod, Zer-störung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekennzeichnet. Trauer über die Opfer des Krieges und über unschuldig Getötete beherrschte die Länder Europas. Vor allem in Polen und in der Sowjetunion beklagten die Menschen in ver-wüsteten Städten und Landstrichen millionenfache Verluste. Auch außerhalb Europas gab es zahllose Kriegsopfer und eine bis dahin unbekannte Zerstörung.
-    Nach der Befreiung der Konzentrations- und Vernichtungslager in Auschwitz und an vielen Orten wurde vor aller Welt der Völkermord an den Juden sichtbar. Mit Entsetzen und Scham mußten die Deutschen erkennen, was das von Rassenwahn und ideologischer Verblendung geleitete Regime in ihrem Namen vollbracht hatte. Seither ist die Erinnerung an die "Schoa" mit Deutschland verbunden.
-    Zugleich wurden die Untaten bekannt, die sich auch gegen die Angehörigen anderer Völker, gegen ethnische Minderheiten, gegen Menschen mit Behinderungen, gegen politisch oder weltanschaulich Andersdenkende und viele andere gerichtet hatten.
-    Auch die Unterdrückung des deutschen Volkes selbst trat jetzt deutlich zutage. Der Terror gegen alle, die sich der Partei und ihrem Machtapparat entgegengestellt hatten, die für Freiheit und Menschenwürde eingetreten und deshalb Opfer der Gewalt oder einer ungerechten Justiz geworden waren, wurde in seinem ganzen Ausmaß offenbar.

Im Abstand von fünf Jahrzehnten zeigt das Jahr 1945 ein Bild, das sich jeder einfachen Deutung und Bewertung entzieht. Die Niederlage im Krieg und die bedingungslose Kapitulation brachten die Befreiung von einem verbrecherischen Regime, dessen Gewaltherrschaft sich auch gegen die eigene Bevölkerung gerichtet hatte. Die Hoffnung auf eine neue Friedensordnung und ein Zusammenleben der Völker in Gerechtigkeit und Freiheit wurde durch die Spaltung Deutschlands und den Kalten Krieg sehr bald bitter enttäuscht. Für die Generationen, die all dies persönlich erlebt haben, bringt der Rückblick auf das Jahr 1945 Schmerz und Leid, aber auch Versagen und Schuld ins Bewußtsein. Die Nachgeborenen müssen wissen, daß es auch ihre Geschichte ist, der sie sich nicht entziehen können und die ihnen eine besondere Verantwortung auferlegt. Die Auseinandersetzung mit diesen historischen Gegebenheiten und mit den Konsequenzen, die sich hieraus ergaben, ist nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im geteilten Deutschland sehr unterschiedlich verlaufen. Seit der deutschen Einigung im Jahr 1990 ist die Besinnung auf diese dunkle Periode der deutschen Geschichte zu einer gemeinsamen Aufgabe aller Deutschen geworden, deren Erfüllung das innere Zusammenwachsen fördern und stärken wird.


Die Frage nach Schuld und Verantwortung
Auch fünfzig Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft stehen wir vor der Frage, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Wie war es möglich, daß sich der Nationalsozialismus so schnell und umfassend durchsetzte? Welche Kräfte förderten seinen Aufstieg und warum gab es ein so breites Maß an Zustimmung und Mitläufertum? Wo blieb der Protest gegen Willkürakte und Gewalttaten? Warum ging kein Aufschrei durch das Land, als in einer Nacht die Synagogen brannten? Warum führten die erkennbaren Vorbereitungen des Krieges nicht zu breitem Widerstand? Weshalb kam das deutsche Volk erst nach der Katastrophe zur Besinnung?

Diese und andere Fragen bedrängen uns auch heute in ungeminderter Schärfe. Sie müssen wachgehalten und immer wieder neu beantwortet werden. Die Zeit des Nationalsozialismus hat in der Geschichte Deutschlands und Europas eine besondere Stellung. Es geht darum, sie in der ganzen Komplexität ihrer Geschehnisse und Wirkkräfte zu erfassen und der Versuchung zu widerstehen, die Perspektive einseitig zu verengen oder nachgewiesene Tatsachen zu leugnen. Dasselbe gilt für die Bemühungen um das historische Verständnis und für die Frage nach Verantwortung und Schuld. Die geschichtliche Wahrheit und die Verantwortung für die Zukunft fordern eine Sicht, die frei ist von Relativierung, Aufrechnung oder ideologischer Verzerrung. Der Umgang mit Versagen und Schuld ist in unserer Gegenwart für viele einzelne Menschen und für die Gesellschaft insgesamt zu einem Problem geworden. Verdrängung von Schuld und ein pauschales, aber folgenloses Schuldgefühl stehen oft unvermittelt nebeneinander. Angesichts des Unrechts und Leids, das unter dem Zeichen des Nationalsozialismus über die Menschen und die Völker gebracht wurde, ist jedoch ein Zurückweichen vor der Schuldfrage nicht zu rechtfertigen. Nur wo Schuld anerkannt und bereut wird, können Vergebung und Versöhnung wachsen. Dies wissen gläubige Christen und dies bestätigt die allgemeine Lebenserfahrung.

Ein ernsthafter Umgang mit der Frage nach Schuld und Verantwortung verbietet leichtfertige Urteile aus der zeitlichen und persönlichen Distanz. Mit Recht ist die Zuweisung kollektiver Schuld an das ganze deutsche Volk schon von unseren Vorgängern kritisiert und zurückgewiesen worden. Denn Schuld geht aus persönlicher Entscheidung und Handlung hervor und muß persönlich verantwortet werden. Ebenso entschieden ist aber auch der Versuch zurückzuweisen, alle Schuld der nationalsozialistischen Zeit allein bei Adolf Hitler und den nationalsozialistischen Entscheidungsträgern zu sehen. Deren unbezweifelbare Täterschaft kann die Mitverantwortung und Mitschuld der vielen, die das System mitgetragen oder toleriert haben, nicht verdecken. Es ist weder angebracht, stellvertretend für sie ein Schuldbekenntnis abzulegen, noch ist es an uns, das Maß ihrer Schuld zu bemessen. Gott selbst kennt es; er allein schafft letzte Gerechtigkeit und schenkt wahre Vergebung.


Zeugnis, Widerstand und Versagen der Kirche
Die Frage nach Mitverantwortung und Schuld richtet sich auch an die Kirche in Deutschland. Sie muß vor Gott, vor sich selbst und vor der Allgemeinheit Rechenschaft über das Verhalten von Gläubigen, Priestern und Bischöfen während der nationalsozialistischen Zeit geben. Die Bemühungen um ein wahrheitsgetreues Bild haben seit 1945 nicht nachgelassen und sind mit Unterstüt¬zung der zeitgeschichtlichen Forschung weit vorangebracht worden. Dabei ist deutlich geworden, daß pauschale Urteile auch hier an der historischen Wahrheit vorbeigehen.

In ihrem ersten gemeinsamen Hirtenschreiben nach dem Ende des Krieges und dem Zusammenbruch der Diktatur haben die deutschen Bischöfe damals die Ambivalenz des historischen Befundes deutlich zum Ausdruck gebracht: "Wir freuen uns", so schrieben sie am 23. August 1945, "daß so viele unseres Glaubens nie und nimmer ihr Knie vor Baal gebeugt haben. Wir freuen uns, daß diese gottlosen und unmenschlichen Lehren auch weit über den Kreis unserer katholischen Glaubensbrüder hinaus abgelehnt wurden. Und dennoch: Furchtbares ist schon vor dem Krieg in Deutschland und während des Krieges durch Deutsche in den besetzten Ländern geschehen. Wir beklagen es zutiefst: Viele Deutsche, auch aus unseren Reihen, haben sich von den falschen Lehren des Nationalsozialismus betören lassen, sind bei den Verbrechen gegen menschliche Freiheit und menschliche Würde gleichgültig geblieben, viele leisteten durch ihre Haltung den Verbrechen Vorschub, viele sind selber Verbrecher geworden. Schwere Verantwortung trifft jene, die auf Grund ihrer Stellung wissen konnten, was bei uns vorging, die durch ihren Einfluß solche Verbrechen hätten verhindern können und es nicht getan haben, ja diese Verbrechen ermöglicht und sich dadurch mit den Verbrechern solidarisch erklärt haben."

Wenn wir von heute aus auf das Verhalten der katholischen Gläubigen und der kirchlichen Verantwortlichen zurückblicken, stellen auch wir fest, daß zwischen dem nationalsozialistischen Unrechtssystem und der katholischen Kirche eine tiefe Kluft und eine wechselseitige Ablehnung bestanden. Sie manifestierten sich auf vielfältige Weise und wurden zum Ursprung zahlloser Konflikte, in denen viele katholische Frauen und Männer, Laien, Priester und Ordensleute ihren Mut und ihre Opferbereitschaft - bis hin zum Martyrium - bewiesen.

Die Distanz der katholischen Bevölkerung zur nationalsozialistischen Ideologie und Partei zeigte sich unübersehbar bei den entscheidenden Wahlen vor und im Jahr 1933. Auch nach der Machtergreifung blieb die Mehrzahl der katholischen Gläubigen der Ideologie des Nationalsozialismus fern. Im Festhalten am christlichen Glauben und sei-nen Lebensformen widerstand die Kirche den Versuchen der Gleichschaltung oder Vereinnahmung. Sie war in vielem ein Fremdkörper und Stein des Anstoßes für das nationalsozialistische System. Selbst einfache Vollzüge des kirchlichen Lebens wurden oft zu bewußten Akten der Verweigerung: Die Teilnahme am sonntäglichen Gottesdienst trotz zeitgleicher nationalsozialistischer Pflichtveranstaltungen; der Besuch des Religionsunterrichtes, der in den Schulen immer mehr zurückgedrängt und beseitigt wurde; die Mitgliedschaft in katholischen Vereinigungen und Verbänden, die zur Selbstauflösung gezwungen wurden; die Teilnahme an Bekenntnistagen und anderen Veranstaltungen, die den Zusammenhalt der katholischen Gläubigen demonstrierten; die öffentliche Fortführung kirchlicher Traditionen; der Widerstand gegen die Entfernung der Kreuze aus den Schulen; die Teilnahme an Prozessionen und Wallfahrten sowie vieles andere mehr. Nur wer selbst unter ähnlichen Bedingungen seinen Glauben bezeugt hat, kann richtig ermessen, was all dies für die Beteiligten als Kraftquelle, aber auch an Risiko und Gefahr bedeutete. Dieses Widerstehen in zahllosen unauffälligen Aktionen und Unterlassungen war für die Machthaber unerträglich, weil es den Totalitätsanspruch ihres Systems ständig infrage stellte.

Der persönliche Einsatz gegen das Regime ging aber noch erheblich weiter. Es ist nicht möglich, die große Zahl der Männer und Frauen namentlich anzuführen, die im Stillen und in der Öffentlichkeit aus christlicher Überzeugung gegen die nationalsozialistischen Machthaber tätig waren, Verfolgte versteckten, Hilfe zur Flucht leisteten, Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen halfen und deswegen mit ungerechter Gewalt verfolgt, bestraft, interniert oder sogar getötet wurden. Unter ihnen sind Jugendliche und Alte, Menschen unterschiedlicher Berufe und gesellschaftlicher Schichten, Laien, Ordensleute, Priester und Bischöfe. Man zögert, einzelne Namen zu nennen - Eugen Bolz, Alfred Delp, Reinhold Frank, Willi Graf, Nikolaus Groß, Gottfried Könzgen, Karl Leisner, Bernhard Letterhaus, Bernhard Lichtenberg, Otto Müller, Josef Wirmer -, weil man in Gefahr gerät, viele andere zu vergessen, die ebenfalls ihr Leben verloren, als sie ihren Glauben verteidigten oder sich für ihre bedrängten Mitmenschen einsetzten. Neben ihnen, die weithin zum Vorbild geworden sind, steht die große Zahl derjenigen, die ebenfalls gelitten haben oder sogar zu Tode gekommen sind, weil sie ihrem Gewissen folgten, ohne daß dies über ihren unmittelbaren Lebenskreis hinausgelangt ist. Zu ihnen gehören auch die zwölftausend katholischen Priester - das war jeder zweite Priester in Deutschland -, die in Konflikt mit dem nationalsozialistischen Regime gerieten und von denen eine nicht geringe Zahl durch Mißhandlungen im Gefängnis oder im Konzentrationslager schwere Schäden oder den Tod erlitten. Ihrer aller Andenken gilt es, in Dankbarkeit zu bewahren.

Daneben können und wollen wir freilich nicht übersehen, daß es auch innerhalb der katholischen Kirche unkluges Schweigen und falsche Zurückhaltung, ängstliche Reaktion und schuldhaftes Versagen gegeben hat. Mit unseren Vorgängern im Bischöflichen Amt stehen wir vor der Frage, ob der Protest der Kirche immer genügend deutlich gewesen ist, um den menschenverachtenden Maßnahmen Einhalt zu gebieten und die Widerstandskraft der Christen und der ganzen Bevölkerung zu stärken. Hier sind Mängel, Fehler und Widersprüche zu verzeichnen. Es gab das eindeutige Nein der Kirche zur nationalsozialistischen Rassenideologie. Aber es gab keinen öffentlichen Aufschrei, als sie rücksichtslos ins Werk gesetzt wurde. Es bleibt eine schmerzliche Feststellung, daß gegen die Nürnberger Gesetze 1935 und nach der Reichspogromnacht 1938 nicht mit Entschiedenheit protestiert worden ist. Freilich konnte der öffentliche Widerspruch gegen staatlich organisierte und sanktionierte Verbrechen auch das Gegenteil bewirken und zu einer Ausweitung von Gewalt und Vernichtung führen. Ein Opfer dieses verhängnisvollen Zusammenhangs ist Edith Stein zusammen mit vielen anderen Juden aus den Niederlanden geworden. Andererseits haben die Predigten des Bischofs von Münster, Clemens August von Galen, gegen die planmäßige Tötung geistig Behinderter und die Stellungnahmen anderer Bischöfe wie des Bischofs von Rottenburg, Johann Baptist Sproll, gegen die Rechtsverletzungen der Nationalsozialisten gezeigt, daß ein entschieden vorgetragener öffentlicher Protest wegen der Wirkung auf die Bevölkerung das rücksichtslose Gewaltregime nicht unbeeindruckt ließ.

Schmerzlich ist im Rückblick auch zu erkennen, daß die Bereitschaft, über die eigenen Belange hinaus für andere Verfolgte einzutreten, nicht von Anfang an genügend ausgeprägt war. In zahllosen, mit Standhaftigkeit durchgehaltenen Beschwerden und Eingaben wurde gegen Übergriffe auf die kirchliche Seelsorge protestiert; mit nicht geringem Erfolg wurde versucht, die eigenen Gläubigen zusammenzuhalten und gegen national-sozialistische Einflüsse zu immunisieren. Zugleich aber mangelte es auch an Mut, Kraft und Weitblick, um ebenso für diejenigen nachdrücklich einzutreten, die nicht zur Kirche gehörten oder gar weltanschaulich ihr Gegner waren. Nicht wenige Christen haben - wie Gertrud Luckner, Gabriele von Magnis und Margarete Sommer - unter Einsatz des eigenen Lebens und mit Hilfe anderer jüdische Mitbürger und andere Verfolgte vor dem Zugriff der Verfolgung gerettet. Aber es gab auch hilfloses Wegsehen oder Selbstberuhigung in dem Gedanken, daß vielleicht das Schlimmste nicht wirklich eintreten würde.
Mutiges Zeugnis und Widerstand können und sollen nicht gegen Versagen und Schuld aufgerechnet werden. Bewunderung und Dank für das eine verringern nicht Reue und Scham über das andere. Für die heutige Kirche wird beides zur Mahnung, ihre Verantwortung für das Ganze des Gemeinwesens zu erkennen, allen Ansätzen zur Mißachtung der Würde des Menschen entgegenzutreten, Böses als Böses und Unrecht als Unrecht öffentlich zu benennen und dabei, wie ihr Stifter und Herr Jesus Christus, vor allem an der Seite der Benachteiligten und Schwachen zu stehen.


Fünfzig Jahre auf dem Weg zur Freiheit und Versöhnung
Wenn wir heute auf das Jahr 1945 zurückschauen, so geht der Blick durch fünf Jahrzehnte der Nachkriegsgeschichte. In dieser Perspektive wird deutlich, daß das Jahr 1945 einen epochalen Wendepunkt für unser Volk, für Europa und für die Entwicklung der ganzen Welt darstellt. Die Hoffnungen, die nach dem Ende des Krieges aufblühten, haben sich trotz mancher Rückschläge und bleibenden Enttäuschungen in einem weit höheren Maße erfüllt, als damals erwartet werden konnte.

Dabei waren die vergangenen fünfzig Jahre für unser Volk, für die Nachbarländer und für die Welt keineswegs eine leichte Zeit. Der Weg unseres Vaterlandes vom besetzten Gebiet in die volle Unabhängigkeit war lang und hindernisreich. Die Jahre nach dem Krieg waren von Not und Hunger gekennzeichnet. Zahllose Menschen hatten durch Zerstörung oder Vertreibung Haus und Heimat verloren. Viele Familien waren auseinandergerissen. Die Frauen, die während des Krieges und in der Nachkriegszeit eine schwere Last trugen, und die Hinterbliebenen der Gefallenen mußten ihr Schicksal allein in die Hand nehmen. Die Not der Heimatvertriebenen forderte auch denen, die sie aufnahmen, große Opfer ab. Dennoch gelang es, das Leben in einer freiheitlichen und rechtsstaatlichen Ordnung, die auch ihre christlichen Grundlagen nicht verleugnete, wirtschaftlich, sozial und kulturell aufblühen zu lassen. Unser Gemeinwesen ruht auf dem stabilen Fundament des Grundgesetzes und auf den garantierten Grundrechten. Das Vertrauen in den Rechtsstaat hat sich gefestigt.

Die positive Entwicklung in der alten Bundesrepublik Deutschland blieb von der Teilung des Landes überschattet, die auf unabsehbare Zeit festgeschrieben zu sein schien und mit der sich viele, aus unterschiedlichen Motiven, zunehmend abfanden. Die Menschen östlich der Elbe und der Werra trugen dabei die schwerere Last. Sie waren erneut unter die Herrschaft eines totalitären Systems geraten, das seine ideologischen Ziele mit aller Rücksichtslosigkeit verfolgte. Unter ungleich schwierigeren Bedingungen als ihre Mitbürger im Westen Deutschlands haben sie den Wiederaufbau aufgenommen und den Willen und die Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit nicht aufgegeben. Die deutsche Wiedervereinigung hat ihre individuellen und gesellschaftlichen Lebensverhältnisse grundlegend verändert und fordert ihnen in kürzester Zeit eine Neuorientierung ab, für die im Westen mehrere Jahrzehnte zur Verfügung standen. So verständlich deshalb manche Ungeduld und Enttäuschung ist, gilt es doch immer wieder, mit Dankbarkeit und Freude festzuhalten, daß die im Jahr 1945 angebrochene Entwicklung mit dem Jahr 1990 endlich zu ihrem Durchbruch gelangt ist und jetzt alle Kräfte zur weiteren Entfaltung herausfordert.

Die Zukunft des geeinten Deutschland ist eng mit der Entwick¬lung Europas verbunden, die seit 1945 vor allem von dem Bemühen um eine neue Friedensordnung bestimmt war. Unsere Nachbarn in Europa haben uns trotz aller schlimmen Erfahrungen des Krieges schon sehr früh die Hand zur Versöhnung gereicht. Langlebige Vorurteile wurden abgebaut; Verständnisbereitschaft und Vertrauen wuchsen. Der französische Bischof Pierre Marie Théas und seine Mitbrüder waren hierfür Wegbereiter. Die deutsch-französische Freundschaft wurde zum Modell eines neuen Zusammenlebens und zur Grundlage für die Integration der europäischen Staatengemeinschaft. Die bis heute anhaltende Dominanz der wirtschaftlichen Belange darf uns nicht übersehen lassen, wie stark das Zusammenwachsen auf der Grundlage gemeinsamer Werte und Überzeugungen vorangeschritten ist und uns auch für die Zukunft den Weg weist.

Versöhnung wurde auch dort möglich, wo die Gräben besonders tief waren. Während des Zweiten Vatikanischen Konzils sind die polnischen und die deutschen Bischöfe, ohne auf Anfeindungen im eigenen Land zu achten, mit ausgestreckter Hand aufeinander zugegangen, um Vergebung zu erbitten und Vergebung zu gewähren. Sie haben damit einen entscheidenden Anstoß für die Annäherung und Aussöhnung zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk gegeben, die ihrerseits zum Vorbild für eine neue Beziehung zu anderen mittel- und osteuropäischen Nachbarländern werden konnten. Zu dieser Entwicklung haben nicht zuletzt die deutschen Heimatvertriebenen durch ihren schon sehr früh ausgesprochenen feierlichen Verzicht auf "Rache und Vergeltung" beigetragen. Dankbar erkennen wir an, daß dies heute auch vielen Menschen in unseren östlichen Nachbarländern bewußt wird. Mit den Mitteln menschlicher Gerechtigkeit ist das den Vertriebenen zugefügte Unrecht ebensowenig wieder gutzumachen wie das von Deutschen in den besetzten Ländern verübte Unrecht. Wiedergutmachung zwischen unseren Völkern fordert die Bereitschaft, sich innerlich von alten nationalen Feindschaften abzuwenden und mitzuhelfen, daß die Verletzungen geheilt werden, die hieraus hervorgegangen sind. Viele gelungene Beispiele solchen Bemühens haben gerade auch im kirchlichen Raum dazu geführt, daß neue Brücken - insbesondere auch zu den tschechischen Nachbarn - geschlagen wurden.

Dies sind hoffnungsvolle Perspektiven am Ende dieses Jahrhunderts. Dennoch sind wir Zeugen, daß nationalistische Gegensätze und Rivalitäten, alte Machtkämpfe und Feindbilder noch immer nicht überwunden sind. Es schreit zum Himmel, daß im Bereich des ehemaligen Jugoslawien gegenwärtig wieder unschuldige Menschen in den Abgrund von Krieg, Vertreibung und sinnloser Zerstörung gerissen werden, während die Gemeinschaft der Völker mit Ratlosigkeit und wachsender Abstumpfung die Bilder des Schreckens beobachtet. Die europäische Gemeinschaft darf sich nicht mit dem abfinden, was hier geschieht. Sie kann ihr Gewissen nicht damit beruhigen, humanitäre Hilfe zu leisten und die Schadensfolgen des Krieges zu mindern.


Verantwortung für die Zukunft
Gedenktage und Gedenkjahre sind kein Selbstzweck. Die Vergewisserung über den eigenen Standort vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung dient der Gestaltung der Zukunft. Freiheit und Recht, die unsere Gesellschaft und unsere Staatsordnung tragen, müssen täglich neu verwirklicht und verteidigt werden. Es wäre eine untaugliche "Vergangenheitsbewältigung", wenn wir fünfzig Jahre nach dem Kriegsende und dem Untergang des "Dritten Reiches" so tun wollten, als sei der Geist der Unmenschlichkeit von damals endgültig gebannt; als hätten wir nur zu beklagen, was damals an Schrecklichem geschehen ist, und uns nicht in acht zu nehmen vor gegenwärtigen und künftigen Versuchungen und Verfehlungen.

Wir ermutigen alle zur Wachsamkeit, besonders zum Einsatz für die grundlegenden menschlichen Werte, zur Verteidigung des Rechtes auf Leben von Geborenen und Ungeborenen, zum Augenmaß, wo technischer Fortschritt Mensch und Schöpfung in Gefahr bringt. Mit einiger Sorge beobachten wir die Tendenz, persönliche Ansprüche und Rechte auszuweiten, die Pflichten gegenüber dem Gemeinwesen aber gering zu achten. Die Neigung, sich ins Private oder in geschützte Binnenräume - kirchlicher oder anderer Art - zurückzuziehen, entspringt keiner christlichen Haltung. Wir müssen von einer zum Egoismus und zu einer extremen Individualisierung neigenden Mentalität wieder zu verbindlichen gemeinsamen Wertmaßstäben zurückfinden. Ein lebendiger Glaube an Gott und die Begegnung mit der Person und der Botschaft Jesu Christi sind hierfür die besten Voraussetzungen.

Wehren wir auch aller neu aufbrechenden Gewalt, selbst wenn sie gegenwärtig nur von verirrten oder verführten Randgruppen ausgeht. Die Fähigkeit, einander zu achten und fremde Eigenart zu respektieren, ist ohne Zweifel größer geworden. Aber Vorurteile und Feindbilder führen ein zähes Leben. Sündenböcke sind rasch gefunden, wo Mißstände nicht erklärt werden können und wo von eigenem Versagen abgelenkt werden soll. Fremdenhaß und Antisemitismus dürfen nicht geduldet werden, auch dort nicht, wo sie in stumpfer Gedankenlosigkeit vor allem auf öffentliche Provokation abzielen. Wir müssen uns weiterhin bemühen, Menschen anderer Sprache und Kultur und das Zusammenleben mit ihnen als Bereicherung für unser Land zu verstehen.

Eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, die nicht von den Gefährdungen und Verführungen der Gegenwart ablenkt, bleibt auch über das Gedenkjahr 1995 als Aufgabe bestehen. Vor allem in der Erziehung und in den Medien, aber auch im gesellschaftlichen Zusammenleben überhaupt gilt es, immer wieder Aufklärung zu leisten und zur Besinnung zu rufen. Totalitäre Menschenverachtung, ideologische Verblendung, Nationalismus, Gewaltherrschaft, Diskriminierung von Minderheiten und Bedrohung des Friedens dürfen nie wieder die Oberhand gewinnen. Dies schulden wir den Opfern der Verbrechen aus der nationalsozialistischen Zeit des Krieges und der Vertreibung. Dies ist es auch, wofür wir in Verantwortung vor Gott und im Vertrauen auf seine Hilfe mit Entschiedenheit eintreten müssen.

Bonn, den 24.04.1995

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