| Pressemeldung

Wort der deutschen Bischöfe Gesellschaftliche Verantwortung aus dem Glauben 100 Jahre Sozialenzyklika "Rerum Novarum"

- 5. Sonntag in der Osterzeit - 28.04.1991 -

 

Liebe Mitchristen!

1. „Wir wollen nicht mit Wort und Zunge lieben, sondern in Tag und Wahrheit“ (1 Joh 3,18). Dieser Aufruf der heutigen Lesung bleibt aktuell. Vorbild ist Jesus von Nazareth, der die Liebe Gottes zu uns Menschen nicht nur verkündet, sondern gelebt hat - bis zum äußersten. Er ist selbst die menschgewordene Liebe Gottes zur Welt. Diese liebevolle Sorge Gottes soll sich bezeugen im Leben der Christen wie in der Kirche insgesamt. So arbeiten wir mit am Reiche Gottes, dass sein „Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden“. Wir wissen: Werke der Barmherzigkeit und Liebe zu den geringsten Brüdern und Schwestern sind der Maßstab, wenn wir dem Herrn im Endgericht begegnen.

2. Die Liebe zum Nächsten kann verschiedene Formen annehmen. Die Gerechtigkeit im Zusammenleben der Menschen wie in den gesellschaftlichen Strukturen gehört wesentlich zur Liebesforderung des Evangeliums. Die unmittelbare Hilfe muß in der modernen Gesellschaft durch politische Entscheidungen ergänzt und gestützt werden. Wer den Menschen wirksam helfen will, muß die Ursachen ihrer Not beheben und die Lebensumstände verbessern. Solche gesellschaftlichen Veränderungen können freilich ohne Änderung der persönlichen Einstellung nicht gelingen.

3. Es waren wache Christen gerade auch aus Deutschland, die im vergangenen Jahrhundert den tiefen Wandel der Lebensbedingungen wahrnahmen, ihn als Anfrage an die christliche Liebe verstanden und sich gemeinsam mit den katholischen Verbänden der sozialen Herausforderung stellten:
- Karl-Heinrich Fürst zu Löwenstein und der Publizist und Politiker Ritter von Buß, die auf die ersten Katholikentage prägenden Einfluß nahmen;
- Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler, der „Arbeiterbischof“ von Mainz;
- Adolph Kolping, der Priester und „Gesellenvater“, der am 27. Oktober dieses Jahres von Papst Johannes Paul II. seliggesprochen wird;
der Wissenschaftler und Politiker Franz Hitze und der Unternehmer Franz Brandts sowie viele andere, die sich in Theorie und Praxis für soziale Reformen einsetzten.

Durch Initiativen solcher oder ähnlicher Art angeregt, hat Papst Leo XIII. – aus eigener Erfahrung mit der Armut vertraut – in seinem bahnbrechenden Lehrschreiben Rerum Novarum die Arbeiterfrage ausdrücklich zum Thema gemacht. In Anbetracht der Not der Industriearbeiter forderte er die Christen auf, die sozialpolitische Verantwortung als ureigenen Auftrag wahrzunehmen. An diese Enzyklika aus dem Jahr 1891 erinnern wir uns heute nach 100 Jahren dankbar.

Was Leo XIII. als christlichen Auftrag aufzeigte, haben danach zahlreiche päpstliche Sozial-Lehrschreiben sowie das II. Vatikanische Konzil bestätigt und weitergeführt. Genauso haben viele Bischofskonferenzen – jüngst noch in den Vereinigten Staaten und in Österreich – die aktuellen Themen der Gesellschafts- und Sozialpolitik behandelt. Vor welchen Herausforderungen wir heute stehen, hat auch die Europäische Ökumenische Versammlung „Frieden in Gerechtigkeit“ in Basel gezeigt.

4. Beginnend mit Rerum Novarum, hat die katholische Soziallehre vielen Christen in Verbänden, Wirtschaft und Politik Ermutigung und Orientierung gegeben, die Gesellschaft und insbesondere die Arbeitswelt mitzugestalten. Auch bis in die Formulierung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland ist dieser Einfluß spürbar. In Rerum Novarum hat Papst Leo XIII. gezeigt: Um der Not der Arbeiter zu begegnen, reicht Mildtätigkeit nicht aus. Die gesellschaftliche Ordnung muß so geändert werden, daß sie der gottgeschenkten Würde des Menschen gerecht wird. Dazu ist auch der Staat in Pflicht genommen. Das Lehrschreiben nennt einige wichtige Elemente:

  • Das Recht der Arbeiter, sich in Freiheit zusammenzuschließen, um ihre berechtigten Interessen wahrzunehmen und durchzusetzen;
  • das Recht auf einen existenzsichernden Lohn für den einzelnen wie für seine Familie;
  • die Bildung von Eigentum in der Hand des Arbeiters, um in gewissem Umfang Unabhängigkeit und Freiheit zu sichern;
  • die Sicherung eines angemessenen Arbeitsschutzes;
  • das Zusammenwirken von Kapital und Arbeit in gerechter Sozialpartnerschaft.

5. Vieles von dem, was Leo XIII. und seine Nachfolger forderten, konnte erreicht werden. Vieles bleibt noch zu tun; neue Aufgaben sind hinzugekommen.

Wir danken allen, die in der Welt der Arbeit, der Wirtschaft und Politik Verantwortung übernommen haben und dazu beitragen, die sozialen Strukturen menschenwürdig zu prägen. Wir danken den Frauen und Männern, die haupt- und vor allem ehrenamtlich in Verbänden, Gruppen und Gremien sowie in den zuständigen Wissenschaften tätig sind. Wir danken vor allem auch den jungen Menschen, die oft ein waches Gespür haben für gesellschaftliche und soziale Herausforderungen und sich engagieren. Ihnen allen wünschen wir, daß sie sich von den großen Anliegen der katholischen Soziallehre inspirieren lassen. Sie werden erkennen, daß diese Lehre aktuell und wegweisend ist.

6. Den noch heute gültigen Grundauftrag von Rerum Novarum nehmen wir nur wahr, wenn wir den Herausforderungen unserer Tage nicht ausweichen. Einige davon haben wir aus Anlaß der deutschen Einheit in unserem gemeinsamen Wort Christliche Verantwortung in veränderter Welt (September 1990) angesprochen:

  • Den Schutz der „unantastbaren Würde des Menschen“ in allen Phasen seines Lebens - von der Empfängnis bis zum Tod; dies bedingt die Sorge um Ehe und Familie und die Weiterentwicklung der Familienpolitik.
  • Die Schaffung und Sicherung vergleichbarer Bedingungen des Lebens und der persönlichen Chancen in ganz Deutschland; das heißt vor allem eine wirksame Überwindung der Arbeitslosigkeit mit Hilfe der Schaffung neuer Arbeitsplätze durch eine gerechte Verteilung von Arbeit und des Ertrages der Arbeit;
  • Die Bereitstellung von ausreichendem Wohnraum.

Rerum Novarum dachte damals im überschaubaren Raum von Nationalstaaten. Unsere Zeit aber bringt eine grenzüberschreitende und weltweite Verantwortung. Ökonomische und ökologische Abhängigkeiten schaffen neue Aufgaben, die wir Christen in Treue zu Rerum Novarum annehmen müssen.

Als Beispiel nennen wir die großen Wanderungs- und Fluchtbewegungen. Das wirtschaftliche Gefälle zwischen Nord und Süd, West und Ost bewirkt Armut und Chancenlosigkeit. Politische Unrechtsysteme, Krieg und Menschenrechtsverletzungen drängen Millionen Menschen, ihre Heimat zu verlassen. Die Länder Westeuropas sind von diesem Geschehen mitbetroffen und dürfen sich nicht heraushalten. Als Christen tragen wir Mitverantwortung, daß alle Menschen gerechte Chancen zum Leben in ihrer Heimat haben. Umfassende Hilfsprogramme und Veränderungen in den politischen Rahmenbedingungen sind nötig. Sie müssen in der Euorpäischen Gemeinschaft, in anderen internationalen Zusammenschlüssen und in den Einzelstaaten durch Gesetze und Verträge abgesichert werden. Dafür müssen wir bereit sein, unseren Lebensstandard und unsere Lebensführung zu ändern.

Wanderungs- und Flüchtlingsströme bringen einzelne Menschen, Kulturen und Sprachen, Religionen und Völker miteinander in Kontakt, bisweilen aber auch in Konfrontation. In Anerkennung der Unterschiede über alle Grenzen hinweg gilt es, den Dialog zu lernen und einander als Mitmenschen zu achten. Die letzten Monate haben gezeigt, wie nötig dieser Dialog ist, gerade auch mit den Muslimen und dem Islam.

Die wirtschaftliche Verflechtung und die rapide technische Weiterentwicklung machen den Schutz unserer Lebenswelt zu einer weltweiten Aufgabe. Dazu müssen wir Christen die Welt neu als Schöpfung Gottes sehen lernen; sie ist uns anvertraut, daß wir sie bebauen und pflegen und für kommende Generationen erhalten.

7. 100 Jahre nach Erscheinen von Rerum Novarum haben wir Grund zum Dank für den sozialen Fortschritt, den viele Menschen guten Willens bewirkt haben. Es bleibt zugleich die Einladung, im Vertrauen auf den Herrn den Weg in die Zukunft weiterzugehen. Dabei ermutigt uns seine Zusage: „Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht“ (Joh 15,5).


Bonn, den 22. März 1991

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