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„Vergiß nie die Armen und die Kranken, die Heimatlosen und die Fremden“

Über den eigenen Auftrag der Kirche zwischen Wohlstand und Armut angesichts der heutigen Sozialstruktur und veränderter Lebenslagen Eröffnungsreferat des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Dr. Karl Lehmann (Mainz), bei der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 23. September 1996

 

Unser Land durchmißt wie viele andere Staaten und Gesellschaften eine Zeit beträchtlichen sozialen Wandels mit großen Herausforderungen für unser Gemeinwesen. Zur Bewältigung der Folgeprobleme ist gewiß in erster Linie die Politik hauptverantwortlich, aber die Lösungen dürfen nicht nur von ihr allein erwartet werden. Der einzelne ist dabei genauso wenig ausgeschlossen wie die Institutionen. Alle müssen ihre Bereitschaft und Fähigkeit unter Beweis stellen, die aufgegebenen Probleme anzuerkennen, anzugehen und zu meistern. Kleine kirchliche Gemeinschaften können es sich vielleicht leisten, im Windschatten dieser elementaren Herausforderungen nur ihren eigenen Zielen nachzugehen. Kirchen, die bei allen Wandlungen der "Volkskirche" die Verantwortung für die Mitgestaltung des Gemeinwesens im ganzen nicht einfach abstreifen können und wollen, müssen sich im Maß des Möglichen und vor allem im Rahmen ihrer Kompetenz mit der Bewußtseinsbildung, Wahrnehmung und Bewältigung der entstandenen Probleme beschäftigen. Sie können sich nicht in Nischen zu¬rückziehen, die sich dieser gesellschaftlichen Gestaltungsprobleme verschließen. Es kann ihnen nicht gleichgültig sein, wie die Bürger, die vielfach immer auch Mitglieder der Kirchen sind, in ihren verschiedenen alltäglichen Situationen leben und wo sie der Schuh drückt. Dabei geht es um den Unternehmer genauso wie um den Arbeitnehmer.

Die Verführung zu einer nichtssagenden Neutralität oder zu einer totalen Enthaltsamkeit ist groß. In solchen Situationen, wo es immer auch schon um elementare Alternativen der gesellschaftlichen Gestaltung geht, gibt es kein behütetes Plätzchen, das außerhalb jeder Politik und jeder Kritik wäre. Im Gegenteil, fast alle gesellschaftlichen Kräfte versuchen alle Partner des gesellschaftlichen Dialogs auf ihre Seite zu bringen oder gar auch - mit gewiß nicht immer zimperlichen Mitteln - über den Tisch zu ziehen.

Diese Situation ist unvermeidbar. Man muß sich ihr in aller Offenheit, Nüchternheit und Klugheit stellen. Dies ist nicht möglich, wenn man sich letztlich parteilich auf die eine oder andere Seite schlägt, sondern nur wenn man von der Mitte des Evangeliums her einen eigenen, unverwechselbaren Auftrag zur gesellschaftlichen Mitverantwortung hat und diesen, unabhängig von aller Einflußnahme und Instrumentalisierung von außen, konsequent verfolgt.

In diesem Eröffnungsreferat soll gezeigt werden, in welchem Rahmen es eine ureigene Aufgabe sozialer Verkündigung der Kirche gibt und wie sie heute wahrgenommen werden muß. Es ist selbstverständlich, daß dabei nur einige exemplarische Themen und Fel-der in Auszügen und fragmentarisch angegangen werden können. Dieses Eröffnungsreferat will nichts anders sein als eine Präambel für die Beratungen der Deutschen Bischofskonferenz zu einem gemeinsamen Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland.


I. Die Kirche und die Soziale Marktwirtschaft


Als Gottes Volk, das durch die Jahrhunderte wandelt und in fast allen Ländern der Erde verbreitet ist, kann die Kirche Jesu Christi keine Option treffen für ein bestimmtes gesellschaftliches, politisches und wirtschaftliches System. Wenn sie eine solche Bindung eingegangen ist oder sich zu spät von den entsprechenden Verhältnissen gelöst hat, mußte sie es immer auch büßen. Dies kann freilich nicht heißen, daß die Kirche unverbindlich über den Wolken schwebt. Dies schließt zum Beispiel eine Zustimmung zu den Grundlagen der Demokratie ein. "Anerkennung verdient das Vorgehen jener Nationen, in denen ein möglichst großer Teil der Bürger in echter Freiheit am Gemeinwesen beteiligt ist. Zu berücksichtigen sind jedoch die konkrete Lage jedes einzelnen Volkes und die notwendige Stärke der öffentlichen Gewalt. Damit aber alle Bürger zur Beteiligung am Leben der verschiedenen Gruppen des Gesellschaftskörpers bereit seien, müssen sie auch in diesen Gruppen Werte finden, die sie anziehen und zum Dienst für andere willig machen." (Pastoralkonstitution "Gaudium et spes", Art. 31) Deshalb ruft die Kirche zur Anerkennung legitimer Meinungsverschiedenheiten in Fragen gesellschaftlicher Ordnungsprobleme auf, ermutigt zur politischen Verantwortung und erinnert daran, daß die politische Gemeinschaft und die Kirche "zum Wohl aller um so wirksamer ihren Dienst leisten, je mehr und besser sie rechtes Zusammenwirken miteinander pflegen" ("Gaudium et spes", Art. 76). Die Kirche erfüllt ihren Auftrag als "Zeichen und Schutz der Transzendenz der menschlichen Person" und fördert innerhalb einer Nation und zwischen den Völkern Gerechtigkeit und Liebe. So will sie die politische Freiheit der Bürger und ihre Verantwortlichkeit fördern (vgl. "Gaudium et spes", Art. 76).

Die Kirche anerkennt im Sinne relativer Autonomie eigene Verfahrensweisen und Sach-gesetzlichkeiten der Wirtschaft, die freilich immer im Rahmen der sittlichen Ordnung und primär zum Dienst am ganzen Menschen ausgeübt werden sollen (vgl. "Gaudium et spes", Art. 64). In diesem Rahmen heißt es: "Darum verdienen technischer Fortschritt, Aufgeschlossenheit für das Neue, die Bereitschaft, neue Unternehmen ins Land zu rufen und bestehende zu erweitern, die Entwicklung der eigenen Produktionsverfahren, das ernsthafte Bemühen aller irgendwie am Produktionsprozeß Beteiligten, überhaupt alles, was zu diesem Fortschritt beiträgt, durchaus gefördert zu werden." ("Gaudium et spes", Art. 64) Das Konzil spricht hier in einer Diktion, die zwar sicher den 60er Jahren nahesteht, aber es ist keineswegs blind im Blick auf die Folgen des Modernisierungsprozesses. Störungen und Beunruhigungen werden deutlich beim Namen genannt (vgl. "Gaudium et spes", Art. 63).

Man hat bis zum Erscheinen der Enzyklika "Centesimus annus" Papst Johannes Pauls II. am 1. Mai 1991 die kirchliche Soziallehre nicht selten getadelt, weil sie zur Wahl der Wirtschaftsordungen verhältnismäßig unbestimmt gesprochen und sich damit auch vielen Deutungsmöglichkeiten ausgesetzt hat. Die Kirche hat eindeutig den marxistischen, besonders auch vom Staat diktierten Sozialismus in allen Spielarten abgelehnt. Die Kapitalismus-Kritik ist auch in den jüngeren Lehräußerungen in der Substanz unverändert hart. Besonders scharf wurden Äußerungen in der Enzyklika "Sollicitudo rei socialis" vom 30. Dezember 1987 der Kritik unterzogen, weil sie den Anschein einer "Äquidistanz" gegenüber den beiden Wirtschaftssystemen in Ost und West nahezulegen schienen. Umgekehrt hatte sich die Soziallehre nie eindeutig - was besonders die Kritik in unserem Land hervorrief - zur marktwirtschaftlichen Ordnung geäußert. Lange Zeit gab es ein tiefes Mißtrauen gegenüber dem Prinzp des Wettbewerbs (vgl. schon "Rerum novarum", Art. 2; "Quadragesimo anno", Art. 88).

Mit der Enzyklika "Centesimus annus" ist jedoch eine neue Situation entstanden, weil sich hier Papst Johannes Paul II. nach der Wende des Jahres 1989 - zweifellos auch auf das Drängen deutscher Wirtschaftskreise hin - mit den Wirtschaftssystemen auseinandersetzt. Hier wird nun die "freie Marktwirtschaft" im Kontext mit dem "Aufbau einer demokratischen Gesellschaft, die sich von sozialer Gerechtigkeit leiten läßt" (CA, Art. 19), zustimmend erwähnt. Der "freie Markt" sei das wirksamste Mittel für die Anlage und den besseren Gebrauch der Ressourcen und für die beste Befriedigung der Bedürfnisse, er fördere den Austausch der Produkte und stelle den Willen und die Optionen des Menschen in den Mittelpunkt (vgl. CA, Art. 34 und 40).

Man darf diese Aussagen gewiß nicht einfach identifizieren mit der konkreten Gestalt der "Sozialen Marktwirtschaft", wie sie in unserem Land nach 1945 von Ludwig Erhard und seinem Staatssekretär Alfred Müller-Armack konzipiert und verwirklicht worden ist, wobei es für einzelne Elemente Wurzeln im sogenannten ORDO-Liberalismus (oder auch "Freiburger-Schule"), in der Tradition evangelischer Sozialethik und Sozialarbeit und natürlich auch in der katholischen Soziallehre gibt. Die Nähe zwischen der Enzyklika und diesen Theorien ist freilich ganz unbestreitbar. Walter Kerber (Kommentar zu "Centesimus annus", unter dem Titel "Vor neuen Herausforderungen der Menschheit", Freiburg 1991, S. 154) formuliert diese Gemeinsamkeit so: "Der Staat soll einerseits die Rahmenbedingungen des Wirtschaftens im Sinne des Gemeinwohls gestalten und gegebenenfalls auch mit Zwangsgewalt durchsetzen, aber andererseits die Lenkung des Wirtschaftsablaufs der Entscheidung der vielen einzelnen über den Wettbewerb am Markt überlassen, ohne dauernd interventionistisch einzugreifen." Es verbleiben eben wohl Unterschiede, die hier nicht näher erläutert werden müssen, auf ihre Bedeutung für die heutige Diskussion wird später zurückzukommen sein.

Trotz der Nähe zur "Sozialen Marktwirtschaft" vermeidet die Enzyklika "Centesimus annus" in der folgerichtigen Fortführung der bisherigen Konzeption die Bindung an ein konkretes, partikuläres Wirtschaftssystem, auch wenn dieses durchaus erfolgreich ist. Hier wird verwirklicht, was H. de Lubac (Glauben aus der Liebe, Einsiedeln 1970, S. 326) schon sehr hellsichtig vor bald 60 Jahren (Catholicisme, Paris 1938) formuliert hatte: "Der Katholizismus entbindet uns und bindet uns gleichzeitig; er entbindet uns von jeder irdischen sozialen Form, und er bindet uns an jede irdische Gesellschaft. Gegen jeden Anarchismus ist er der gründlichste Konservative als Wahrer der Grundprinzipien, und gegen jeden Konformismus der gründlichste Revolutionär, da seine Ungeduld sich nie nur gegen eine bestimmte soziale Form richtet, sondern über alles hinausstrebt, was das Kennzeichen der Schwäche und irdischen Hinfälligkeit trägt. Der Katholizismus hindert uns darum auch, je zu Sklaven unserer eigenen Amtlichkeit zu werden, weil er das eigentliche soziale Band ins Innere verlegt."


2. Krise und Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft in unserem Land

Man sollte nicht vergessen, daß die Idee der Sozialen Marktwirtschaft als freiheitliche und menschengerechte Alternative nicht nur zur zentral geplanten staatlichen Zwangsverwaltungswirtschaft, sondern ebenso zum reinen Laissez-faire-Kapitalismus erdacht und verwirklicht worden ist. Sie entstammt der durchaus kritischen und von Anfang an mit einer ethishen Fragestellung versehenen Grundfrage, wie denn der modernen Industriegesellschaft eine funktionsfähige und zugleich menschenwürdige Ordnung gegeben werden könnte. Dieser Ansatz ist wichtig, weil mit Sozialer Marktwirtschaft keineswegs das liberallistische Freibeutertum einer vergangenen Epoche, auch nicht das naiv vorgestellte "freie Spiel der Kräfte" gemeint ist, sondern eine Form des Wirtschaftens, die das einzelne Individuum mit seinen Fähigkeiten und seiner Verantwortung zur Geltung kommen läßt, aber auch die soziale Gerechtigkeit und das Gemeinwohl nicht aus dem Auge läßt. Die Soziale Marktwirtschaft gründet sich auf souverän handelnde Menschen, deren freie Entscheidungen in der Eigenverantwortlichkeit begründet sind.

In diesem Zusammenhang ist es darum wichtig, daß die "Soziale Marktwirtschaft" ei-gentlich gar nicht ein System im engeren Sinne darstellt, das eine be¬stimmte gesellschaftliche Ordnung gewährleistet. Marktwirtschaft in diesem Sinne ist sehr viel mehr ein offenes Gefüge von wirtschaftlichen Verhaltensweisen, entspricht viel eher einem "Stil" des Umgangs mit der wirtschaftlichen Realität (vgl. B.S Schefold, Wirtschaftsstile I, Frankfurt a.M. 1994, S. 73 - 110). Darum ist es auch konsquent, daß die geistigen Väter der "Sozialen Marktwirtschaft"  (Walter Eucken, Alfred Müller-Armack, Wilhelm Röpke, Franz Böhm, Alexander Rüstow und Ludwig Erhard) nicht nur die ethische Dimension wirtschaftlichen Handelns erkannt haben, auch wenn sie sie mit unterschiedlichen Gewichten realisiert haben, sondern sie wußten um das sich gegenseitig bedingende Geflecht von Sozialer Marktwirtschaft und Demokratie, von individueller Anstrengung und sozialer Verantwortung, von Privateigentum und seiner Sozialpflichtigkeit. Darum sind im Umkreis der so verstandenen Marktwirtschaft auch vernünftige Lebensplanung, Familiensinn, feste moralische Bindung, mehr Selbstverantwortung, Rangordung der Werte und Subsidiaritätsprinzip fest verankert. Gerade Ludwig Erhard hat den Sinn der Sozialen Marktwirtschaft darin gesehen, dem einzelnen Menschen reichere und bessere Lebensmöglichkeiten und damit überhaupt neue Perspektiven der Lebensführung zu eröffnen.

Eigens sei auf Alfred Müller-Armack verwiesen, der nie einen Hehl daraus machte, daß für ihn eine wirtschaftliche Erneuerung nicht ohne eine Wiederbelebung des Glaubens möglich ist (vgl. A. Müller-Armack, Das Jahrhundert ohne Gott. Zur Kultursoziologie unserer Zeit, Münster 1948). Er scheute vor deutlichen Worten nicht zurück: "Eine Rechristianisierung unserer Kultur ist ... die einzige realistische Möglichkeit, ihrem inneren Verfall in letzter Stunde entgegenzutreten. In ihrem Zeichen vereinigt sich die Wahrheit des Wortes mit den letzten Kräften der europäischen Tradition und den geistigen Überzeugungen unserer Gegenwart, um jene wenigen, aber unverrückbaren Richtmaße zu geben, deren wir im irdischen Dasein bedürfen." (Das Jahrhundert ohne Gott, S. 182)

Wenn man sich dies vor Augen hält, ist es evident, daß es "Soziale Marktwirtschaft" nicht als ein Wirtschaftssystem gibt, das man nach Beliebigkeit von Ort zu Ort verpflanzen kann, sondern daß die ethischen und geistigen Voraussetzungen als elementare Rahmenbedingungen eine ebenso große oder noch größere Rolle spielen wie die gesellschaftlichen und politischen Faktoren.

Es ist darum auch problematisch, wenn man nur wenige Elemente oder gar ein Moment in der Konzeption der Marktwirtschaft herausgreift und darauf allein setzt. Dies soll am Beispiel der Bedeutung des Marktes gezeigt werden. Der Markt ist keine zentrale Autorität, im Gegenteil: Er dezentralisiert. Hier begegnen sich Anbieter und Nachfrager. Es werden Preise gebildet. Der Markt ist der Ort und die Chance des Tauschens. Über die von der Preisbildung ausgehenden Handlungsanreize kann der Markt die Produktion und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen in gewisser Weise steuern. Der Markt fordert nicht den moralischen Übermenschen, aber er ist auch nicht von sich einfachhin unethisch. Zunächst haben Menschen nur ihr eigenes Wohl, vielleicht ihrer Familie und ihrer Kleingruppe, im Auge. Natürliches Selbstinteresse ist nicht gleichzusetzen mit Selbstsucht oder reinem Egoismus. Es gibt im Eigennutz durchaus eine ethische Dimension. Hier ist an die biblische Auffassung der Nächstenliebe zu erinnern, die zunächst "nur" verlangt, daß wir den Nächsten lieben wie uns selbst. Märkte veranlassen die Teilnehmer schließlich auch dazu, die Interessen anderer Menschen zu berücksichtigen. Man wird im Lichte der umfassenden klassischen ethischen Tradition dem ethischen Gehalt der Marktkräfte und auch des Strebens nach Eigennutz besser gerecht werden müssen, als dies oft von einem überzogenen Begriff des "Altruismus" her geschehen ist.

Aber gerade so wird auch evident, daß der so verstandene Markt nicht alle ethischen Faktoren berücksichtigt. Er interesiert sich zunächst für die Belange kaufkräftiger Nachfrager, aber am Markt Unbeteiligte und solche, die bedürftig sind, interessieren ihn weniger. Der Markt enthält also durchaus humane und ethische Triebkräfte, er hat auch durchaus ein ethisches Potential, aber deswegen ist er nicht einfach "heilig". Darum darf man dem Markt keinen unbegrenzten Lauf lassen (vgl. CA, Art. 40). Er ist auch gierig, und keineswegs löst sich alles von selbst. Der Mensch ist mehr als bloßer Produzent und Konsument von Waren (vgl. CA, Art. 49). Darum darf der Markt mit seinen Mechanismen nicht "vergötzt" werden (vgl. CA, Art. 40). Viele wichtige Güter des Lebens sind ihrem Wesen nach keine bloßen Waren und entziehen sich darum auch der Logik des Marktes (vgl. CA, Art. 40). Dies ist wohl auch der Grund, warum die Sozialenzykliken lange Zeit ein tiefes Mißtrauen gegenüber den Mechanismen der Marktwirtschaft und vor allem des Wettbewerbs entgegenbrachten. Der Markt "ist Element der Freiheit und Mittel zur Steigerung der wirtschaftlichen Effizienz. Trotzdem wendet sich der Papst gegen eine Auffassung, die den Wettbewerb am Markt wie eine Art natürliches Gesetz ansieht, dessen Ergebnisse einfach hingenommen werden müssen - auch wenn sie auf eine Unterdrückung der Schwachen durch die Starken hinauslaufen. Der Staat hat vielmehr die Rahmenbedingungen des Wirtschaftsablaufs so zu gestalten, daß sich der Wettbewerb zugunsten aller Beteiligten auswirkt. ... Nicht anonyme Marktgesetze, sondern der politische Wille zur Gerechtigkeit und die gemeinsame Verantwortung aller sollen die Wirtschaft bestimmen." (W. Kerber, Vor neuen Herausforderungen der Menschheit. Kommentar zu "Centesimus annus", S. 152 f) Genau hier ist der Ort, warum der Begriff "Soziale Marktwirtschaft" keineswegs selbstverständlich ist. Er enthält in sich die Spannung, die Kräfte des Marktes zuzulassen, in ihrer Dynamik zu nützen, sie aber auch - wenn nötig - in ihren problematischen, manchmal auch destruktiven Tendenzen zu bändigen und stets auch an das Wohl aller und die Verant¬wortung für das Gemeinwohl zu denken. "Soziale Marktwirtschaft" ist darum schon als Begriff ein Paradox, eine elementare polare Spannung, die nur als ständige Herausforderung und Aufgabe begriffen werden kann. Ohne sittliche Maßstäbe ist ein solcher Ausgleich gar nicht denkbar.

Es scheint mir eine Binsenweisheit zu sein, daß wir in unserem Land uns schon länger auf allen Seiten gegen dieses grundlegende Verständnis einer wirklichen "Sozialen Marktwirtschaft" verfehlt haben. Wir haben viele Mechanismen und Institutionen ge-schaffen für z.B. die Begrenzung des Wettbewerbs, den sozialen Ausgleich, die Unterstützung Bedürftiger. Dies hat auch lange Zeit funktioniert. Aber in derselben Zeit sind die tragenden Grundlagen, die ein wirkliches Gelingen Sozialer Marktwirtschaft gewährleisten, nicht mehr genügend beachtet, ja in vielen Fällen unterlaufen worden. Die Selbstverantwortung ist oft nicht mehr eingefordert und selten belohnt worden. Eine Form des Eigennutzes und der Rücksichtslosigkeit machte sich breit, die eben doch an Egoismus grenzt. Schließlich gab es auch zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern in satten Zeiten Vereinbarungen, die von beiden Seiten aus elementare Voraussetzungen der Marktwirtschaft mißachteten. Dies reicht weit über die Arbeitswelt hinaus. Ich denke z.B. auch an die Defizite der Bildungspolitik.

Alfred Müller-Armack, der von einer "sozial gesteuerten Marktwirtschaft" sprach, hat gegenüber der rein liberalen Marktwirtschaft diese soziale Verpflichtung außerordentlich unterstrichen. Er hat die Marktwirtschaft auch nicht zu der "freiheitlichen Lebensordnung schlechthin" hochstilisiert, sondern hat in ihr bei allen notwendigen ethischen Voraussetzungen so etwas wie ein Organisationsmodell und eine Zweckmäßigkeitsstruktur gesehen, die instrumentellen Charakter trägt. Sie ist nicht selber Ziel. Müller-Armack war überhaupt grundsätzlich offen für eine ständige Korrektur der Sozialen  Marktwirtschaft. So hat er im Jahr 1960 von einer "zweiten Phase der Sozialen Marktwirtschaft" gesprochen (Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Studien und Konzepte zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Europäischen Integration, Freiburg 1966, 267-291). Er hat zum Beispiel auf erhebliche Mängel der realisierten Ordnung hingewiesen und neue Mängel genannt: die mangelnde Rücksicht der produktionell-technischen Entwicklung auf Umweltschäden, vermehrte Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten, institutionelle Sicherung von Vollbeschäftigung usw. So hat er schon sehr früh in der vollen Realisierung der Sozialen Marktwirtschaft ein "Programm für die Zukunft" gesehen, das längst noch nicht erfüllt ist.

Diese Defizite wurden nicht sofort in ihrer Bedeutung erkannt. Es gab hohes wirtschaftliches Wachstum, Geldwertstabilität, eine relativ starke Währung, für praktisch jeden Arbeitsuchenden einen Arbeitsplatz, soziale Sicherheit und zunehmenden Wohlstand.

Zwar wird schon seit vielen Jahren vor Zerfallserscheinungen gewarnt (vgl. z.B. ORDO. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesllschaft, Bd. 40, Stuttgart 1989, mit zahlreichen Beiträgen). Aber es gab wohl eine gewisse Selbstzufriedenheit und Sattheit, die die Herausforderung und die Korrektur der Sozialen Marktwirtschaft vernebelten. Gewiß sind auch die Kirchen nicht unbeteiligt. Es gab zwar unerschrockene Rufer in der Wüste, wie zum Beispiel Joseph Kardinal Höffner, aber man darf die Frage stellen, ob wir in dieser Zeit nicht zu sehr mit innerkirchlichen Fragestellungen und internen Konflikten beschäftigt waren.

Im Lauf der letzten Jahre ist die Erneuerungsbedürftigkeit der Sozialen Marktwirtschaft sonnenklar geworden. Da ich kein Fachmann bin, beschränke ich mich auf die Nennung einiger Stichworte:

- Schwierigkeiten einer sparsamen Haushaltspolitik und einer mittelfristigen Haushaltskonsolidierung in den öffentlichen Budgets,

- Reduzierung von Subventionen (Hemmnis für den weiteren Strukturwandel, Förderung der "Subventionsmentalität", einseitige Begünstigung einzelner Sektoren oder Unternehmen, Wettbewerbsverzerrung usw.)

- Verminderung von Staatseingriffen an zahlreichen Märkten, Abbau hinderlicher Regulierungen, Privatisierung von Staatsunternehmen und staatlicher Beteiligungen an Unternehmen,

- Notwendigkeit einer Reform der Unternehmensbesteuerung zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit vor allem auf den internationalen Märkten,

- Begrenzung der Lohnzusatzkosten,

- mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt,

- Schutz der Umwelt und ihrer Ressourcen,

- verstärkte wirtschaftspolitische Kooperation der Industrieländer aufgrund der wachsenden internationalen Verflechtung der Güter- und Finanzmärkte,

- Eintreten für ein offenes und freies Welthandelssystem.

In der "Sozialen Marktwirtschaft" sind Ökonomie und Sozialpolitik bei aller Verschie-denheit ihrer Methoden und Ziele wie zwei Brennpunkte in einer Ellipse, denn die beste Sozialpolitik wäre eine Ökonomie, die Notlagen gar nicht erst entstehen läßt. Es ist kein Zweifel, daß es zwischen beiden Bereichen eine viel größere Wechselwirkung gibt, als üblicherweise die Differenz der Disziplinen und der Methoden vermuten läßt. Dies gilt auch in prakticher Hinsicht, denn der soziale Friede ist eine wichtige Bedingung und zugleich eine Folge wirklicher Sozialer Marktwirtschaft im beschriebenen Sinne. Hier gab es bestimmte Entwicklungen in den letzten Jahren, die in die Krise führten:

- Eine Sozialpolitik, welche die wirtschaftlichen Antriebskräfte lähmt, die Flucht in die Schattenwirtschaft fördert und die Selbstverantwortung schwächt, belastet die Sozialkassen und setzt einen verhängnisvollen Zirkel von sinkender Leistungsbereitschaft und steigenden Abgabenlasten in Bewegung. Wenn der wirtschaftliche Fortschritt blockiert wird, leiden auch der Wohlstand und die soziale Sicherheit.

- Solidarische Hilfe muß stärker auf jene Fälle begrenzt werden, in denen der einzelne sich nicht mehr allein helfen kann. Die Abhängigkeit von der staatlichen Entziehung und Zuteilung von Hilfen steht in einem Widerspruch zum Menschenbild einer freiheitlichen Ordnung. Die privaten Haushalte und die Selbstverantwortung vieler Bürger können kleinere Lebensrisiken besser bewältigen. Hohe Risiken sollten vollständig abgesichert werden.

- Die Sozialpolitik in ihrer heutigen Ausprägung schafft in vielen Fällen von sich aus die Notlagen, um deren Linderung sie bemüht ist.

- Jahrzehnte hindurch ist das Sozialleistungssystem immer mehr ausgebaut worden. Bürokratisierung und Regulierung sind kaum mehr überschaubar.

- Soziale Leistungen müssen so bemessen werden, daß Arbeit höher entlohnt wird als Nichtarbeit.

- Bedenkliche Fehlentwicklungen und unsoziale Folgen der praktischen Sozialpolitik müssen stets wahrgenommen, überprüft und gesammelt werden.

Die Versprechungen des Sozialstaats sind langsam, aber sicher unhaltbar werden. Dabei geht es nicht nur um Wohlstand, es geht um unser friedliches Zusammenleben in Deutschland auch in der Zukunft. Es ist noch kein Abbau des Sozialstaates, wenn gewisse Ansprüche auf Sozialleistungen nicht mehr erfüllt werden können. "Auch nach der Widervereinigung ist Deutschland eines der ökonomisch erfolgreichsten Länder der Welt mit Spitzenlöhnen, den kürzesten Arbeitszeiten und dem wohl dichtesten sozialen Sicherungsnetz. Seinen urlaubenden Bürgern nimmt der Staat sogar das Risiko eines Konkurses ihrer Reiseveranstalter ab; arbeitslose Bürger rennen wegen nichterstatteter Taxikosten anläßlich eines Bewerbungsgesprächs in Höhe von 1 Mark zwanzig zu den Sozialgerichten." (J. Borchert, Sozialstaat unter Druck, in: Universitas, 51, 1996, 318). Es wird einem asozialen Besitzstandsdenken das Wort geredet. Dabei erscheint es völlig unmöglich, die heutigen Probleme mit den alten Mitteln zu lösen. Die wirkliche Krise liegt in der Kumulation mehrerer Belastungen. Dies gilt besonders für die internationale Wettbewerbsfähigkeit. Hier spielen folgende Faktoren eine besonders wichtige Rolle:

- Es gibt eine epochale Wende, weil die Zeit der Nationalökonomien zu Ende geht und diese nur noch Segmente des Weltmarktes sind. Geld, Waren und Dienstleistungen ken-nen keine Grenzen mehr, indem die großen Konzerne jeweils dort produzieren, wo die geringsten Kosten und die größte Wirksamkeit zu erwarten sind. Diese Globalisierung scheint unausweichlich zu sein. Sie erhöht die Reaktionsschnelligkeit der Unternehmer, schwächt im allgemeinen die Gewerkschaften. Sie können besser  ausgespielt werden. Darauf ist mindestens psychologisch Rücksicht zu nehmen (vgl. R.B.Reich, Die neue Weltwirtschaft, Berlin 1993, Frankfurt 1996; H.-P. Martin-H.Schumann, Die Globalisierungsfalle, Reinbek bei Hamburg 1996).

- Das Phänomen der Massenarbeitslosigkeit läßt sich auf kurze Sicht nicht beseitigen. In ihr steckt ein gefährliches Potential. Nicht zuletzt auch in Erinnerung an die Weimarer Republik muß man sich ernsthaft fragen, wie viel Arbeitslosigkeit die Gesellschaft, vor allem die junge Generation, verkraften kann, ohne daß dies auf Dauer  zu einer grund-sätzlichen Verweigerungshaltung führt.

- Die andauernde Verlängerung der Lebenserwartung schafft für die sozialen Sicherungssysteme eine Serie äußerst prekärer Situationen.

Deutschland hat bei wichtigen zukunftsträchtigen modernen Schlüsseltechnologien Probleme, die viel intensiver von der Industrie wahrgenommen wer¬den.

- Die wachsende Überalterung der Gesellschaft bringt immer mehr Lasten auf die Arbeitenden.

Somit ist nochmals im Gesamtkontext offenbar geworden, wie sehr eine Kumulation von Belastungen für die Krise ausschlaggebend ist. Darum ist es fragwürdig, nur auf einzelne Maßnahmen allein zu setzen, also nur punktuell. Es wäre nicht minder illusionär, wollte man sich die Lösung der Probleme mit den Mitteln und Zielen von gestern vorstellen. Hier spielt bei allen Einschnitten ein auch pragmatisches Abwägen der konkreten Möglichkeiten eine Rolle. Die Gewerkschaften sind gut beraten, die realen Veränderungen ins Auge zu fassen. Alle ideologischen Instrumentalisierungen helfen nichts.

Man muß an die Wurzeln des Übels zurück. Es geht um eine Restrukturierung und um eine Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft, die durchaus die Kräfte zu einer Regeneration in sich trägt. Dies ist kein Verrat an der Sozialen Marktwirtschaft. Vielmehr zeigt sich, daß diese Bemühungen zu einem mittel- und langfristigen Gelingen beitragen. Wir sprachen bereits von den vielen konstitutiven Faktoren, welche zur Bildung einer wirklich Sozialen Marktwirtschaft beitragen. Dabei geht es nicht nur um Grundwerte und Tugenden, sondern nicht minder um die Familien und alle vorstaatlichen Institutionen. Darum ist hier auch die Kirche elementar herausgefordert und aufgerufen. Sie mischt sich nicht von außen fälschlich in ein fremdes "System" ein, sondern erfüllt eine ureigene Aufgabe.

III. Zur unablässigen Sorge der Kirche um die Armen

Es besteht im Neuen Testament kein Zweifel, daß die Kirche die Nachfolge ihres Herrn besonders glaubwürdig realisiert, wenn sie sich spirituell und lebenspraktisch den Armen zuwendet. Hier wird die Treue zu Jesus Christus unverfälscht bewahrt und zugleich die Herausforderung unserer Gegenwart angenommen. Es gibt wohl keine größere Konkretion der Nachfolge als das Leben mit den Hungernden und Durstigen, mit den Fremden, Heimat- und Woh¬nungslosen, mit den Armen, Kranken und Behinderten, mit den Gefangenen und Unterdrückten leibhaftig in der oft tief beeinträchtigten und beschädigten Lebenswelt zu teilen.

Über den Sinn des Wortes "arm" soll später noch ausführlicher die Rede sein. Jedenfalls ist die Bibel schon im Alten Testament nicht naiv, wenn sie von Armut spricht. Sie weiß um die Lässigkeit und die Faulheit, um vage Entschuldigungen und erfundene Ausreden, um Müßiggang und Genußsucht. Niemand soll jedoch so selbstsicher sein, um vom Fleiß auf den Erfolg zu schließen. Der Reichtum ist kein eindeutiger Wert, sondern kann auch zweideutig sein. Erfolg kann auch zu einem falschen Vertrauen führen: "Wer auf seinen Reichtum vertraut, der fällt, die Gerechten aber sprossen wie grünes Laub" (Spr 11,28). In diesem Sinne können Armut und Entbehrung wertvoller sein als Reichtümer: "Besser wenig in Gottesfurcht als reiche Schätze und keine Ruhe. Besser ein Gericht Gemüse, wo Liebe herrscht, als ein gemästeter Ochse und Haß dabei" (Spr 15,16 f).   

Armut wird in der Bibel zwar als unvermeidliche gesellschaftliche Gegebenheit angesehen, doch ist ihre Linderung und Bekämpfung eine elementare Pflicht. Zahlreiche Gesetzesbestimmungen schützen den Armen (vgl. Dt 15,1 ff). Aus der Überzeugung heraus, daß Gott selbst für die Armen eintritt und ihnen Recht schafft, werden die Bedürftigen oft "die Armen Gottes" genannt (vgl. Ps 34,19; Jes 29,19; 61,1 ff), die von ihm Befreiung und Freude erwarten dürfen. "Arm" zu sein bedeutet, in einem Zustand verminderter Kraft zu sein, bedeutet Armseligkeit und Elend. Sehr stark schwingt in dem sozialen Sinn dieses Wortes mit, daß der Arme unterdrückt worden ist. Darum ist er der Hilflose. Gott hört jedoch die Klagen: "Du vergißt die Elenden nicht" (Ps 10,12).

Die Propheten übernehmen auf der Linie des Bundesrechtes die Verteidigung der Geringen, die in Elend und Unglück leben. Wenn man für diese Armen eintritt, dann bedeutet dies einen Einsatz für das Gottesvolk. Besonders die Unterdrückung der Armen und die Beugung des Rechts werden bekämpft. In der Prophetie des Amos spielt der Schutz der Armen vor Rechtsbeugung und Ausbeutung eine besondere Rolle (vgl. Am 2,6-8, 5,11-13). Die Propheten schildern meisterhaft den Zustand der satten Überheblichkeit, der leichtfertigen Abkehr von Gott und der Rücksichtslosigkeit als Wurzel: "Hört dieses Wort, ihr Baschankühe auf dem Berg von Samaria, die ihr die Schwachen unterdrückt und die Armen zermalmt und zu euren Männern sagt: Schafft Wein herbei, wir wollen trinken." (Am 4,1)

Der Schutz der Unschuldigen und sozial Schwachen gehört zur Lebensordnung des Gottesvolkes und findet daher in vielen Geboten, Verboten und Mahnungen eine genauere sozialethische Ausformung. Es ist darum von besonderer Bedeutung, daß Jesus bei seinem ersten öffentlichen Auftreten bewußt an dieser prophetischen Sendung für die Armen anknüpft und sich damit auch ein Programm gibt, das nicht zufällig bereits an dieser Stelle in der griechischen Sprache "Evangelium" genannt wird: "Der Geist Gottes des Herrn, ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe und alle heile, deren Herz zerbrochen ist, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Gefesselten die Befreiung, damit ich ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe..." (Jes 61,1 f; Lk 4,18 f). Jesus hat sich sehr bewußt in diese prophetische Tradition hineingestellt und sie radikalisiert. Seine ganze Verkündigung ist Evangelium für die Armen: "Selig ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes." (Lk 6,20) Das scharfe Wort Jesu "Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als daß ein Reicher in das Reich Gottes gelangt" (Mk 10,25) ist eine Art von Kommentar zur Nachfolge¬frage (vgl. Mk 10,17 - 22). Mit diesem Ausspruch Jesu und ähnlichen Worten erfolgt keine pauschale Verwerfung der Reichen, aber es geht um ihre besondere Gefährdung, wie sie schon im Alten Bund zur Sprache kam. Niemand darf sein Herz an die Dinge dieser Welt hängen. Nur Bereitschaft zum Verzicht auf Besitz und das Teilen mit den Armen macht frei für eine wirkliche Nachfolge des Herrn. Gerade Lukas verschärft diese kritische Haltung (vgl. 12,22 - 34; 8,14; 18,23 ff; 6,24).

Ähnliches wäre über viele andere Schriften des  Neuen Testamentes zu sagen. Ich zitiere nur noch  ein wichtiges Wort über die Gleichheit aller vor Gott aus dem Jakobusbrief: "Hört, meine geliebten Brüder: Hat Gott nicht die Armen in der Welt auserwählt, um sich durch den Glauben reich und zu Erben des Königreichs zu machen das er denen verheißen hat, die ihn lieben? Ihr aber verachtet die Armen. Sind es nicht die Reichen, die euch unterdrücken und euch vor die Gerichte schleppen?" (2,5 f; 5,1 ff). Es kommt der Heiligen Schrift darauf an, mit dem "ungerechten Mammon" gerecht umzugehen, wie es in selbstloser Wohltätigkeit praktiziert wird (vgl. Lk 14,12 f). Der reiche Ober-zöllner Zachäus ist ein Vorbild für eine großzügige Behandlung des Vermögens (vgl. Lk 19,2 ff).

Über diese elementare Hilfe durch den einzelnen hinaus gibt es jedoch im Neuen Testament auch erste Ansätze für eine stärker institutionell ausgerichtete Unterstützung der Armen. Nur zwei Beispiele seien genannt, nämlich die Gütergemeinschaft der Urgemeinde und das Einsetzen besonderer Armenpfleger (vgl. Apg 6,1 ff). Ein anderes Beispiel mit einer sehr subtilen christologischen Begründung stellt die Kollekte des hl. Pau-lus dar für die Armen in Jerusalem (vgl. 1 Kor 16,1 ff; 2 Kor 8-9).

Damit ist ein Maß aufgestellt, das unbeschadet der verschiedenen Situationen die Kirche ganz grundlegend  verpflichtet. Gott steht entschieden auf der Seite der Armen und Hilfsbedürftigen. Seit Gott in seinem Sohn Jesus Christus die Armut der Menschen angenommen hat, ist der Arme in besonderer Weise Bild Gottes. Er fordert stets wieder die Zuwendung und Solidarität der christlichen Gemeinde. Es ist ein Maßstab für ihre Glaubwürdigkeit, auf der Seite der Armen zu stehen. Das Neue Testament kennt kein Sozialprogramm zur endgültigen Überwindung der Armut in der Welt. Aber durch Spenden, Kollekten, Teilen und Eintreten für sie soll die Gemeinschaft und Verpflichtung für alle, besonders für die Hilfsbedürftigen, zum Ausdruck kommen (vgl. die Artikel Armut/Reichtum in den verschiedenen biblischen Wörterbüchern und biblischen Theologien).

Es gehört darum zur Signatur der Kirche in dieser Welt, die Zuwendung zu den Armen als prophetische Herausforderung zu verstehen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat eine tiefgreifende Umkehr der Kirche zu den Armen gefordert. Neben einigen wichtigen Aussagen in der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" (Art. 1,21,3l, 69,72,88) und im Missionsdekret "Ad gentes" (z.B. Art. 5) gibt es in dem dogmatisch dichten Artikel 8 von "Lumen gentium" eine besonders eindrückliche Aussage: "Wie aber Christus das Werk der Erlösung in Armut und Verfolgung vollbrachte, so ist auch die Kirche berufen, den gleichen Weg einzuschlagen, um die Heilsfrucht den Menschen mitzuteilen... Christus wurde vom Vater gesandt 'den Armen frohe Botschaft zu bringen, zu heilen die bedrückten Herzens sind' (Lk 4,18), 'zu suchen und zu retten, was verloren war' (Lk 19,10). In ähnlicher Weise umgibt die Kirche alle mit ihrer Liebe, die von menschlicher Schwachheit angefochten sind, ja in den Armen und Leidenden erkennt sie das Bild dessen, der sie gegründet hat und selbst ein Armer und Leidender war. Sie müht sich, deren Not zu erleichtern, und sucht Christus in ihnen zu dienen." (LG, Art.8) Diese Aussage, die viel zu wenig beachtet worden ist, gehört in das Herz der Ekklesiologie. Hier wird die Zuwendung zu den Armen und Leidenden ganz eng mit den Strukturen von Kirchesein zu¬sammengebracht (vgl. M. Kehl, Die Kirche, Würzburg 1992, 240 ff).

Es braucht hier nicht gezeigt zu werden, wie die lateinamerikanische Kirche diese Initialzündung des Konzils aufgriff und vertiefte, wie manche freilich dieses Thema politisch mißbrauchten und wie die Kirche es dennoch unbeirrt in ihre Sozialverkündigung aufnahm. Die zentralen Glaubensgehalte werden mit der  sozialen Situation der Armen verbunden, ihre Perspektive und Erfahrung ist Maßstab der Verkündigung des Evangeliums, sie sind damit auch nicht mehr "Objekte" einer mehr von außen handelnden Pastoral, sondern sie sind selbst mit ihrer Glaubens- und Lebenserfahrung, aber auch mit ihrem Elend und ihrer Verzweiflung "Subjekte" der Kirche, die so wirklich zu einer "Kirche der Armen" wird (Zur Interpretation der Option für die Armen vgl. M. Kehl, Die Kirche, 242 ff; E. Klinger, Armut, Zürich 1990, 44 ff.; J. Ellacuria - J.Sobrino, Mysterium liberationis I, Luzern 1995, 293 ff.). Die lehramtlichen Veröffentlichungen zur Theologie der Befreiung haben einseitige Tendenzen und Gefährdungen aufgezeigt, jedoch - was öfter übersehen wird - keinen Zweifel daran gelassen, daß die "Option für die Armen" im Kern zu den unumstößlichen Grundsätzen der heutigen Sozialverkündigung der Kirche gehört, und zwar nicht nur in Lateinamerika.

Es ist darum auch nicht zufällig, daß diese Aufgabe, den Armen und Kranken beizustehen, in der heute gültigen Form der Weihetexte von Diakon, Priester und Bischof einen unübersehbaren Rang einnehmen. Es sind vor allem zwei Orte, nämlich die Homilie und das Weiheversprechen, in denen die Bereitschaft der Zuwendung zu den Armen wie eine zentrale Voraussetzung für die Ausübung des Amtes erscheint. Ich weise hier nur auf die Homilie bei der Bischofsweihe hin, wo es in der Muster-Vorlage heißt: "Vergiß nie die Armen und die Kranken, die Heimatlosen und die Fremden." (Die Weihe des Bischofs, der Priester und der Diakone. Pontifikale I, Handausgabe, Freiburg 1994,  S. 29) Im Weiheversprechen wird dies noch verdeutlicht: "Bist du bereit, um des Herrn willen, den Armen und den Heimatlo¬sen und allen Notleidenden gütig zu begegnen und zu ihnen barmherzig zu sein?" (ebd. S. 32)

Die Gestalt der Not hat sich in der Geschichte immer wieder verändert (vgl. dazu W. Fischer, Armut in der Geschichte, Göttingen 1982; M. Mollat, Die Armen im Mittelalter, München 1984; B. Geremek, Geschichte der Armut. Elend und Barmherzigkeit in Europa, München 1988). In einer Art von Reaktion und Korrespondenz gibt es auch eine bewegende, viel zu wenig bekannte Geschichte der Nächstenliebe, die immer wieder neues oder verborgenes Elend an den Tag brachte und es bekämpfte (vgl. dazu H. Von-hoff, Geschichte der Barmherzigkeit. 5000 Jahre Nächstenliebe, Stuttgart 1987).

Beseitigung der Not und Hilfe sind in den heutigen Gesellschaften ohne einen größeren institutionellen Rahmen kaum möglich. Diese Aussage mindert nicht die primäre Bedeutung der konkreten Nächstenliebe des einzelnen, von Gruppen und von Gemeinden. In den größeren und schwierigeren Nöten wird die Kirche unvermeidlich heute jedoch gesellschaftlich präsent durch die verbandliche Caritas und ihre Fachverbände (vgl. die gegenwärtige Leitbild-Diskussion im Deutschen Caritasverband). Durch die Struktur des Sozialstaates und die im Gefolge des Subsidiaritätsprinzips konsequente Funktion der Wohlfahrtsverbände, zu denen auch der Deutsche Caritasverband und die Fachverbände gehören, entsteht freilich eine sehr enge Verflechtung mit der staatlichen Sozialgesetzgebung und den gesellschaftlichen Strukturen.

Daraus geht hervor, wie intensiv die caritativ-diakonischen Einrichtungen der Kirchen in unserem Land an der Prävention und Therapie, der Linderung und der Überwindung von Not und Elend beteiligt sind. Freilich erhebt sich immer wieder auch die Frage, wie weit bei einer solchen Inanspruchnahme und gesellschaftlichen Verpflichtung die kirchliche Identität und das Proprium der Caritas bewahrt und entfaltet werden können. Dabei geht es nicht in erster Linie um eine ängstliche Selbstbehauptung, sondern um die Frage, ob den Verbänden unter den gegebenen Voraussetzungen noch ein genügend großer schöpferischer Spielraum gegeben ist, um den Nöten der Zeit auf eine originelle, von wirklichen christlichen Motiven inspirierte Weise zu begegnen. Jedoch ist dies ein eigenes Thema, das hier nur angesprochen, nicht jedoch behandelt oder gar beantwortet werden kann. Die Frage läßt sich aber gerade bei dem Wandel des Sozialstaates und rückläufigen finanziellen Einnahmen und Zuwendungen auf die Dauer nicht umgehen.

IV. Zur neueren Diskussion um den Armutsbegriff

Es gibt keine eindeutige und zeitenthobene Definition von Armut. Es ist auch deutlich geworden, daß es sehr schwer ist, die materielle Armut von den nichtmateriellen Aspekten des Elends, zu denen etwa der Zugang zur Bildung gehört, zu trennen. Armut ist außerdem nicht nur mit materiellen Schwierigkeiten verbunden, sondern sie bestimmt auch den sozialen Status, die Stellung und die Rolle in der Gesellschaft. Viele Experten scheinen sich darauf zu einigen, daß das Element der Erniedrigung ein verbindendes Element im Wechselverhältnis vieler Faktoren ist, und zwar als ethische Kategorie, im sozialen Leben und im wirtschaftlichen System. So kann man verstehen, daß die methodologischen Kontroversen um die Messung der Armut bis heute andauern und nach Übereinstimmung vieler Sozialwissenschaftler zu keinem allseits befriedigenden Ergebnis gekommen sind. (vgl. dazu aus der Sicht des Historikers B.Geremek, Ge¬schichte der Ar¬mut, 7 ff)

Um so notwendiger sind wissenschaftlich ernsthafte Armutsuntersuchungen. Diese sind in den letzten Jahren auch bewußt von den Wohlfahrtsverbänden in Auftrag gegeben worden, um vor einer pointierten Stellungnahme eine verläßliche Untersuchung zu besit-zen. Eine besondere Aufmerksamkeit hat die Caritas-Armutsuntersuchung erfahren (vgl. R.Hauser/W.Hübinger, Arme unter uns, 2 Bde., hrsg. vom Deutschen Caritasverband, Freiburg i.Br. 1993). Die Untersuchung ging von der Voraussetzung aus, daß den armen Menschen in unserem Land nur durch hieb- und stichfeste Materialien geholfen werden könnte. Die Untersuchung wollte also von Anfang an keine emotional aufgeheizte Ausweitung eines unbestimmt bleibenden Armutsbegriffs, der natürlich leicht geeignet wäre, heiße Debatten zu entzünden. Es hat sich nämlich in einzelnen Reaktionen gezeigt, daß schon die Verwendung des Armutsbegriffs im Blick auf unsere Gesellschaft trotz aller wissenschaftlichen Absicherung, wie sie in der Untersuchung zweifellos erfolgt, massive Irritationen und Vorwürfe provoziert. Dies gilt besonders dann, wenn man unser Land global mit der Dritten Welt vergleicht.

Armut ist ein Sammel- und Oberbegriff für Strukturen, Lebenslagen und individuelle Mangelsituationen, in denen es Menschen nicht möglich ist, auf eine gewisse Dauer hin mit Hilfe eigener Leistung und ohne private, öffentliche oder staatliche Maßnahmen zur Armutsbekämpfung ihre materiellen, physischen, psychischen oder soziokulturellen Bedürfnisse in einem Maß zu befriedigen, daß ihnen nach allgemeiner Anschauung ein Leben ohne dauernde Bedrohung schon ihrer physischen Existenz durch Hunger, Krankheit oder die Auswirkungen des Überlebenskampfes ("absolute Armut") oder ein menschenwürdiges Leben ("relative Armut") möglich ist.

Wenn man die Armutsuntersuchungen genauer liest, wird von Anfang an erkennbar, daß durch den Ansatz und die Intention nur ein kleiner Ausschnitt der Gesamtbevölkerung erfaßt wird, nämlich besonders Problemgruppen. "In der Untersuchungspopulation sind soziale Unterschichten weit überdurchschnittlich vertreten, repräsentative Aussagen über die Gesamtbevölkerung sind somit nicht möglich." (W. Hübinger, Prekärer Wohlstand. Neue Befunde zu Armut und sozialer Ungleichheit, Freiburg 1996, S. 219) Die Untersuchungsergebnisse haben eine besondere Relevanz für die unteren sozialen Schichten. Sie "widersprechen jedenfalls einem leichtfertigen Ignorieren von gesellschaftlichen Ungleichheitslinien, der sozialstrukturellen Prägekraft von Bildung, sozialer Herkunft und beruflicher Stellung und zeigen den ganz herausragenden Einfluß des Einkommens für die Ausgestaltung der Lebenslage" (W. Hübinger, ebd., S. 222).

Damit werden einige Vermutungen von Untersuchungen fragwürdig, die in den letzten Jahren - in Verbindung mit der Beobachtung einer steigenden Individualisierung und Pluralisierung (U. Beck) - nahelegten, daß die Einkommensveränderungen stark dynami-sche Züge aufweisen, die gesellschaftlichen Ungleichheitslinien ihre Konturen verlieren, soziale Ungleichheit als Ergebnis von Schwankungen und Brüchen in den individuellen Biographien erscheint usw. Die Untersuchungen haben ergeben, daß die Klassenlagen und Schichtungstendenzen in der - vor allem westdeutschen - Sozialstruktur doch ziemlich hartnäckig sind und sich keineswegs so rasch verflüssigen, wie oft angenommen worden ist (vgl. die Untersuchungen von St. Leibfried, W. Zapf usw.).

Erkenntnisse dieser Art sind ganz besonders wichtig, weil die Zahl der verdeckten Armen, die nicht erkannt sein wollen, relativ hoch ist. Bedürftigkeiten werden aus Angst, Scham oder Unkenntnis der Betroffenen nicht geltend gemacht. So haben knapp drei Viertel der verdeckt armen Menschen (71 %), die bei der Caritas Hilfe suchen, noch nie in ihrem Leben Sozialhilfe bezogen. Auch Schulden sind ein wichtiges Problem bei Verdeckt-Armen. Wie bei den Arbeitslosen und den Alleinerziehenden stellt sich bei Verdeckt-Armen die Wohnsituation als besonders problematisch dar.

Ich möchte vor allem darauf hinweisen, daß in zwanzig Jahren sich die Empfänger von Sozialhilfe verdreifacht haben. Junge alleinstehende Arbeitslose, Familien mit mehreren Kindern, deren Hauptverdiener arbeitslos wurde, Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende und Ausländer sind besonders von Notlagen betroffen. Mindestens ein Drittel der Empfänger dieser Hilfe braucht die Unterstützung weniger als ein Jahr. Die Armutsgefähr-dung reicht bis in die Personengruppen mit mittlerem Einkommen hinein. Überhaupt muß man bei der Feststellung von "Armut" sich bewußt sein, daß viele Betroffene immer wieder an der Armutsgrenze herumpendeln und je nach Lebenslage für einige Zeit über oder unter dieser Grenze leben. Etwa 10 % der Bevölkerung sinkt immer wieder in Armut ab oder verharrt darin längere Zeit.

Die Messung der Armut wurde bereits besprochen. Die Armutsschwelle wird auf europäischer Ebene regelmäßig so angesetzt, daß der als "arm" bezeichnet wird, der weniger als 50 % des durchschnittlichen Nettoeinkommens erhält (vgl. Näheres bei W.Hübinger, Prekärer Wohlstand, 54 - 79).

Wenn es schon keinen Königsweg zur wissenschaftlichen, objektiven Messung von Ar-mut gibt, ist es notwendig, die theoretischen Grundannahmen und die konzeptionellen Entscheidungen bei der Wahl des Armutsbegriffs jeweils  offenzulegen. Zweifellos ist mehr Zurückhaltung bei der Verwendung des Armuts-Begriffs anzuraten. Man sollte der Versuchung widerstehen, im Anschluß an G. Simmel (vgl. Soziologie, Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, 5. Aufl., Berlin 1968, S. 345 - 374; dazu W. Hübinger, Prekärer Wohlstand, S. 73 ff.) den Armutsbegriff so weit auszudehnen, daß er jedes Unterstütztwerden einbegreift und die Beseitigung der Armut erst dann erreicht sieht, wenn jede Form von  Abhängigkeit abgeschafft ist. Es ist jedoch nicht unbillig, den Armutsbegriff zu verwenden, wenn jemand eine nicht unbeträcht¬liche Dauer lang auf laufende Hilfe zum Lebensunterhalt oder auf Hilfe in be-sonderen Lebenslagen angewiesen ist und bleibt.

Unter diesen Voraussetzungen ist es notwendig, die Belastungen des Gemeinwohls immer wieder kritisch zu überprüfen. Gerade auch im Rahmen der dargestellten Sozialen Marktwirtschaft besteht kein Zweifel, daß es einer Transformation sozialstaatlicher Leistungen geben muß, der jedoch nicht von Anfang an als Abbau des Sozialstaats diffamiert werden darf. Umgekehrt ist die Aufregung in manchen Kreisen nicht recht zu verstehen: Wenn wir - was gar nicht bestritten werden soll - immer noch in einem der reichsten Länder der Welt leben, wo auch die Lebensrisiken durch die sozialen Sicherungssysteme in einem hohen Maß beherrscht werden, dann kann es doch nicht illegitim sein, bei der eingeräumten Notwendigkeit der erwähnten Transformation genauer hinzusehen, welche Schichten der Bevölkerung, die ohnehin gefährdet sind und sich an der Armutsgrenze bewegen, evtl. stärker in Mitleidenschaft gezogen werden oder gar unter die Räder zu kommen drohen. Ich will, ohne auch nur eine Spur von Sozialneid schüren zu wollen, die Bemerkung nicht ganz unterlassen, daß freilich der feststellbaren Armut ein ebenfalls feststellbarer Reichtum gegenübergestellt werden kann.

Die Armut kann nie aus der menschlichen Gesellschaft verbannt werden. Armut ist aus christlicher Sicht keine Tugend und hat auch keinen Adel. Menschen können in ihr oft tugendhaft leben und eine erstaunliche Menschlichkeit entwickeln. Aber dies ist eher die Ausnahme. Armut ist ebenso wie die Sünde etwas, was nicht sein soll. Sie spiegelt die Gebrochenheit und Erlösungsbedürftigkeit des Menschen wieder. Deshalb ist aber Armut auch nicht einfach schicksalhaft in einer gewissen Ergebenheit in das angeblich Unabänderliche hinzunehmen. Armut ist eine zentrale Herausforderung an jede Sinnstiftung, an jedes der Menschenwürde verpflichtete politische System und an jeden Mitmenschen. Sie fordert zum Einsatz für eine größere soziale Gerechtigkeit heraus.

Für den Christen ist es Glaubenssache, daß das Ende aller Armut erst im Reich Gottes verwirklicht werden kann. Aber wenn dieses Reich Gottes im Wort und im Wirken Jesu Christi sowie im Zeugnis seiner Kirche bereits angebrochen ist, gehört die Bekämpfung der Armut notwendigerweise zum Evangelium Jesu Christi. Dazu gehört das Teilen von Besitz, Eigentum und Chancen ebenso wie die Solidarität mit Situationen und Lebensla-gen des Nächsten. Teilen ist mehr als das schlichte Abgeben vom Überfluß. Es bedeutet auch, Einschränkungen bisheriger Möglichkeiten oder durchaus legitimer Erwartungen hinzunehmen, und zwar ohne Groll und Bitterkeit. Allerdings ist eine solche Haltung - vor allem im säkularen Milieu - nur dann zu erwarten, wenn möglichst überzeugend vermittelt werden kann, daß alle  in überzeugender Weise bereit sind, den Gürtel enger zu schnallen. Letztlich ist aber ein so radikales Teilen nur in der Nachfolge Jesu Christi möglich. Dies wird zuletzt damit begründet, daß in jedem Armen, dem man sich zuwendet, Jesus Christus begegnet, der sich mit den armen Menschen identifiziert (vgl. Mt 25,31 - 46).

Dieses Teilen überwindet Distanz und alle Formen von Diskriminierung, schafft Solidarität und Mit-Leiden. So entsteht wirklich gemeinsam erfahrene und bewährte Solidarität (vgl. dazu Solidarität. Option für die Modernisierungsverlierer, hrsg. von P. M. Zulehner, H. Denz, A. Pelinka und E. Talos, Innsbruck 1996, vgl. auch den Katholischen Kongreß vom 12. - 15. September 1996 in Hildesheim "Solidarität ist unteilbar"). Christliche Armutsbekämpfung möchte im übrigen reiche Menschen nicht diffamieren, sondern gewinnen, "damit sie reich werden an guten Werken, freigebig... (werden) und, was sie haben, mit anderen teilen. So sammeln sie sich einen Schatz als sichere Grundlage für die Zukunft, um das wahre Leben zu erlangen" (1 Tim 6, 18 f).

Manchmal wird auch durch Teilen eine bedrückende Realität nicht verändert. Sie wird vielleicht erträglicher. Deshalb darf die Bereitschaft zum Teilen nicht die einzige Antwort sein. Umkehr im Sinne der Bibel schließt auch eine Veränderungsbereitschaft ein, die freilichkeine Gewalt in Anspruch nimmt. Aber manches kann in dieser Zeit nur - freilich fragmentarisch - geheilt werden, wenn es auch verändert wird. Wo diese Veränderung nicht möglich ist, müssen die Christen und die Kirche, gerade in einer augenscheinlich ausweglosen Lage, gemeinsam ausharren. Statt Resignation und Bitterkeit wird diesem christlichen Bleiben in Geduld vom Kreuz Jesu Christi  her eine Hoffnung gegen alle Hoffnung geschenkt. Es gibt mitten in der Verzweiflung einen Mut, der nicht innerweltlich ableitbar ist, sondern aus der Hoffnung auf das Reich Gottes erwächst. Die großen Reformen in Kirche und Gesellschaft sind vermutlich nie ohne eine solche Beharrlichkeit zustandegekommen.

Dies darf jedoch nicht verdunkeln, daß jeder einzelne, vielleicht kleine Einsatz für arme Menschen Teil der jetzt schon angebrochenen Bewegung ist, die im Reich Gottes mit der Fülle und dem Heil für alle ihre Vollendung finden wird und die uns in der Bibel in vielen Bildern verheißen ist: in den Gleichnissen vom Verlorenen, in der Ankündigung des Mahls aller Völker, in der Verkündigung eines ewigen Friedens zwischen allen Kreaturen und in den Seligpreisungen der Bergpredigt.


***


Wir haben eine lange Wegstrecke durchmessen, die immer wieder bei der Verwirklichung des Christlichen durchschritten werden muß. Sie zeigt die bleibende Handlungsfähigkeit der Kirche und aller Christen, wenn sie aus der Mitte des Glaubens Hoffnung und Kraft schöpfen. Sie hat auch etwas zu tun mit dem Menschenbild, das nicht nur historisch hinter der Ausprägung der Sozialen Marktwirtschaft steht. Diese steht nicht im Gegensatz zu einer sensiblen Sozialpolitik. Aber wir haben trotz aller Versuche eines "Bündnis für Arbeit" in unserer Gesellschaft den Runden Tisch noch nicht gefunden, um den man sich wie um eine verbindende Mitte sammeln kann.

Die Christen in unserem Land wollen - wie eingangs schon gesagt -  nach dem Konsultationsprozeß mit einem gemeinsamen Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland versuchen, eine solche Begegnung, wo und wie sie immer stattfindet, vorzubereiten: Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit.

Für das Gespräch darüber wollte ich gleichsam den Bühnen-Vorhang öffnen, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

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