| Pressemeldung

Unrecht der Geschichte - Perspektiven der Versöhnung

Rede von Bischof Prof. Dr. Dr. Karl Lehmann, Mainz, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, beim Tageskongress "Gegen Unrecht und Gewalt - Erfahrungen und Perspektiven kirchlicher Versöhnungsarbeit" am 30. Januar 2001 in Mainz

Ich freue mich, dass Sie so zahlreich der Einladung der Deutschen Bischofskonferenz gefolgt sind und an unserem Tageskongress "Gegen Unrecht und Gewalt - Erfahrungen und Perspektiven kirchlicher Versöhnungsarbeit" teilnehmen.
Es wird Ihnen allen wahrscheinlich bekannt sein, dass die Bischofskonferenz im letzten August den "Versöhnungsfonds der Katholischen Kirche in Deutschland" eingerichtet hat. Die heutige Zusammenkunft ist die Auftaktveranstaltung für diesen Fonds. Sehr konkret wird im Laufe der Veranstaltung deshalb davon die Rede sein, wie der Versöhnungsfonds arbeitet und welche Richtlinien der Förderpraxis zugrunde liegen. Unser Kongress soll über die Befassung mit solchen praktischen Fragen hinaus aber auch Gelegenheit bieten, in grundsätzlicher Weise darüber nachzudenken, was Versöhnung vor dem Hintergrund einer unrechts- und schuldbehafteten Geschichte bedeutet und in welcher Weise gerade wir Christen hier herausgefordert sind.
Diesem Nachdenken dienen die Beispiele praktischen Versöhnungshandelns, die uns im Laufe des Nachmittags vorgestellt werden, daneben aber auch die beiden Vorträge, die den Kongress am heutigen Vormittag eröffnen. Ich bedauere sehr, dass Herr Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki wegen Krankheit absagen musste. Er ist ein großer Zeuge für Verständigung und Versöhnung unter den europäischen Völkern. Wir grüßen ihn im Krankenhaus in Warschau und wünschen ihm gute Besserung und eine gute Lösung der anstehenden politischen Probleme.
I. Zur Vorgeschichte des Versöhnungsfonds: die Kirche während des Nationalsozialismus und die Diskussion über die Zwangsarbeiter-Problematik
An den Anfang meiner Überlegungen möchte ich einige Bemerkungen zur Vorgeschichte des Versöhnungsfonds stellen. Wie Sie wissen, geht die Entscheidung, einen Versöhnungsfonds einzurichten und mit 5 Millionen DM auszustatten, auf die Debatte über Entschädigungen für die ehemaligen Zwangsarbeiter in der Zeit des Nationalsozialismus zurück. Nach langem Hin und Her und unter erheblichem Druck aus den USA hatte sich die deutsche Wirtschaft 1999 schließlich bereit erklärt, mittels einer gemeinsam mit der Bundesregierung getragenen Stiftung jene Menschen, die während des Zweiten Weltkrieges von deutscher Seite aus ihrer Heimat verschleppt und zum Arbeitsdienst gepresst worden sind, eine Entschädigung zu zahlen. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung über die Zwangsarbeiter erreichte dann im Sommer 2000 auch die Kirchen, denen sehr pauschal vorgeworfen wurde, Teil des von den Nationalsozialisten errichteten Ausbeutungssystems gewesen zu sein.
Es braucht nicht verschwiegen zu werden, dass wir durch diese Vorwürfe zunächst einigermaßen überrascht wurden, da sich die historische Forschung bis dahin mit dem Einsatz von ausländischen Arbeitskräften in kirchlichen Einrichtungen während der NS-Zeit gar nicht befasst hatte. Die Bistümer und z.B. auch die Orden haben daraufhin eine sehr sorgfältige Sichtung der kirchlichen Archive in Auftrag gegeben, die noch nicht abgeschlossen ist, aber doch bereits sehr wesentliche Einsichten ermöglicht. Klar geworden ist dabei, dass Menschen, die vom NS-Staat widerrechtlich zur Arbeit herangezogen wurden, in einer Reihe von Fällen auch in kirchlichen Stellen oder Häusern tätig waren. Es handelt sich hier allerdings um eine verhältnismäßig kleine Zahl. Man wird von einigen Tausend ausgehen können, während die Gesamtzahl der Zwangsarbeiter bei mehr als 5,5 Millionen gelegen haben dürfte - wobei die Kriegsgefangenen, für die völkerrechtlich besondere Regeln galten, hier noch gar nicht berücksichtigt sind. Die Erhebungen und Untersuchungen haben darüber hinaus auch deutlich gemacht, dass die Arbeits- und Lebensbedingungen derer, die der Kirche als Arbeitskräfte zugewiesen wurden, in keiner Weise den Sklavenverhältnissen ähnlich waren, die Zwangsarbeiter in der Industrie oft zu ertragen hatten. Die ausländischen Arbeiter waren bei der Kirche keiner Schwer- oder Schwerstarbeit ausgesetzt. Und sie wurden - nach allem, was wir bisher in Erfahrung bringen konnten - wie vergleichbare deutsche Arbeitskräfte entlohnt. Es ist gewiss kein Zufall, dass staatliche Stellen wiederholt die zu menschliche Behandlung von Zwangsarbeitern durch Priester und Ordensleute kritisiert haben und viele Kirchenleute wegen der Seelsorgebemühungen gegenüber Ausländern mit dem damaligen Gesetz in Konflikt gerieten. Viele Priester kamen deswegen in das KZ. Ich habe früher auf die Zusammenhänge mit der Entstehung der "Arbeiterpriester" hingewiesen.
Wenn man all dies berücksichtigt und dann noch hinzunimmt, dass die Arbeiter in katholischen Einrichtungen möglicherweise überhaupt keine Entschädigungszahlungen aus der von Staat und Wirtschaft getragenen Stiftungsinitiative erhalten hätten, weil sie ganz überwiegend in der Landwirtschaft und in keinem Falle in der Industrie tätig waren, so wird man wohl verstehen können, warum sich die Deutsche Bischofskonferenz entschlossen hat, der Stiftungsinitiative nicht beizutreten und stattdessen einen eigenen Weg der Entschädigung zu gehen. Der von uns eingerichtete Entschädigungsfonds hat - wie Sie den Medien entnommen haben werden - seine Arbeit inzwischen aufgenommen und ist dabei, Zwangsarbeiter in katholischen Einrichtungen ausfindig zu machen. Erste Entschädigungen wurden bereits ausgezahlt.
Mir liegt sehr daran, dass die eben angestellten Überlegungen nicht missverstanden werden. Keineswegs darf es uns als Kirche darum gehen, eigene Schuld und Schuldverstrickung in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Abrede zu stellen oder klein zu reden. Das von den deutschen Bischöfen im September 2000 veröffentlichte Wort zum "Gerechten Frieden" lässt hier nichts an Eindeutigkeit vermissen. Ich möchte deshalb die einschlägige Passage ausführlich zitieren. Es heißt dort: "Wie bitter und doch notwendig es sein kann, demütig Rechenschaft über eigenes Versagen und eigene Schuld gegenüber verhängnisvollen Entwicklungen in der Gesellschaft abzulegen, haben wir in jüngster Vergangenheit selbst erfahren. Denn es stellte sich die Frage nach dem Anteil von Gliedern der Kirche am nationalsozialistischen Krieg, der auf Eroberung, Versklavung und Vernichtung der Nachbarvölker Deutschlands abzielte. Der Charakter dieses vorsätzlich heraufbeschworenen Krieges wurde auch von vielen Christen lange verkannt, seine Dimensionen wurden erheblich unterschätzt. Selbst solche, die keinerlei Sympathie für den Nationalsozialismus empfanden oder ihm sogar ausgesprochen ablehnend gegenüberstanden, waren oft in nationalistischen Vorstellungen gefangen, die sie das leidvolle Schicksal der angegriffenen Völker kaum wahrnehmen ließen. Dazu, den Opfern aktiv beizustehen, für sie Leib und Leben zu riskieren, der Propaganda des Hasses privat oder öffentlich entgegenzutreten, sahen sich zu wenige imstande. "Angesichts des Ausmaßes an Desinformation und an Druck, dem sich die damals Lebenden ausgesetzt sahen, dürfen wir aber nicht überheblich den Stab über eine ganze Generation [...] brechen und damit zugleich die Opfer [...] missachten, die in jener Zeit nicht zuletzt von Christen gebracht wurden. So bewegen wir uns in unserem Bemühen darum, mit der schuldbehafteten Vergangenheit angemessen umzugehen, auf einem schmalen und dornigen Pfad." (Die deutschen Bischöfe; Gerechter Friede, Bonn 2000, Nr. 169).
Sich auf diesem schmalen und dornigen Pfad, von dem wir Bischöfe gesprochen haben, zu bewegen, fordert moralischen Mut ebenso wie historisches Unterscheidungsvermögen. Aber nur wenn wir uns auf diese Weise der Geschichte unserer Kirche nähern, sind wir fähig, sehr präzise von Schuld zu sprechen, anstatt uns in ein allzu allgemeines Schuldbekenntnis einzubeziehen und damit der tatsächlichen Schuld auf eine mehr oder weniger subtile Weise erneut auszuweichen. Von der Schuld nämlich gilt, was Berthold Brecht über die Wahrheit gesagt hat: Sie ist immer konkret.
Gerade wenn man all dies in Rechnung stellt, ist es sehr schwierig, die Frage nach Schuld und Schuldverstrickung der Kirche oder von Mitgliedern der Kirche in der Zwangsarbeiter-Frage angemessen zu beantworten. Immerhin aber müssen wir festhalten, dass es dem nationalsozialistischen Regime gelungen ist, auch uns als Kirche - wenn auch nur gleichsam an der Peripherie - in seine völkerrechtswidrigen Machenschaften zu verstricken. Der einzelne kirchliche Träger, dem Zwangsarbeiter zugewiesen wurden, wird wahrscheinlich kaum eine Möglichkeit gesehen haben, sich dem zu entziehen. Aber es war wohl doch auch so, dass uns als Kirche insgesamt das Unrechtmäßige dieser Beschäftigung von Arbeitskräften nicht ausreichend vor Augen gestanden hat.
Das erklärt mindestens zu einem Teil, warum auch die Kirche so lange Zeit - 55 Jahre - gebraucht hat, um sich diesen Fragen zu stellen. Doch ist hier noch Weiteres zu bedenken, nämlich das Gesamt-Problem von Entschädigungen nach dem Nationalsozialismus. Unsere Gesellschaft hat sich insgesamt doch sehr schwer damit getan, durch Entschädigungen oder Wiedergutmachungsleistungen - wie man früher etwas unglücklich sagte - den Ansprüchen der Opfer gerecht zu werden. In unserem Wort "Gerechter Friede" haben wir festgehalten, dass die Entschädigungspraxis "oft verspätet, zögerlich und gelegentlich widerwillig" erfolgte (Die deutschen Bischöfe, Gerechter Friede, Bonn 2000, Nr. 120). Dies hat, so scheint es, gar nicht einmal in erster Linie damit zu tun, dass die bundesrepublikanische Nachkriegsgesellschaft ihre Geldbörse prinzipiell zugeknöpft hielt. Viel eher ging es darum, dass die Debatte um Entschädigungen unser Volk in sehr konkreter Weise mit den Opfern des "Dritten Reiches" konfrontierte. Für die Erlebnisgeneration - mit ihren Opfern und Tätern, mit ihren Widerstandskämpfern und Mitläufern - bedeutete dies eine schwer zu meisternde Herausforderung. Aber den schwärenden Wunden war nicht durch selbst auferlegte Amnesie (Erinnerungslücke) beizukommen. Und so traten in Wellen immer neue Opfergruppen ins Blickfeld: die Juden und die politischen Opfer des Nationalsozialismus zuerst, dann aber auch die Roma und Sinti, die Kriegsdienstverweigerer und die Deserteure, schließlich auch die Homosexuellen, deren Leiden der Deutsche Bundestag erst im Jahre 2000 - dann aber immerhin einstimmig - gewürdigt hat.
Die Kirche ist in diesen Jahren von der schwierigen öffentlichen Debatte natürlich nicht unberührt geblieben. Einerseits ist sie durchaus so etwas wie eine Avantgarde der Versöhnung gewesen, die nicht nur ihrer eigenen Opfer gedacht hat, sondern bemüht war, die moralische Last des deutschen Volkes mitzutragen und abtragen zu helfen. Andererseits muss selbstkritisch gesagt werden, dass auch wir nicht zu allen Zeiten alle Opfergruppen angemessen in den Blick genommen haben. Wir waren hier auch mit der Gesellschaft Lernende und manchmal wohl auch solche, die nicht schnell genug gelernt haben. Hier liegt - so scheint mir - ein wesentlicher Grund dafür, dass wir uns viel zu spät der Nöte der ehemaligen Zwangsarbeiter bewusst geworden sind. Und darin liegt auch ein Moment von Schuld, der wir alle nicht ausweichen sollten.
II. Erinnerung als Grundlage der Versöhnung
Die Bischofskonferenz hat den Versöhnungsfonds neben - oder besser gesagt: zusammen mit - dem Entschädigungsfonds eingerichtet. Dies hat seinen guten Grund. Denn beide bilden einen Zusammenhang. Vielleicht kann man sagen, dass es sich um so etwas wie Zwillinge handelt. Beide Fonds beziehen sich aufeinander und interpretieren sich wechselseitig.

Dieses grundlegende Verständnis von Versöhnung, das uns schon in der Auseinandersetzung mit der Entschädigungsfrage begegnete, möchte ich nun in eingen kurzen Überlegungen vertiefen und auf seine Konsequenzen befragen.
Zunächst einmal ist dabei festzuhalten, dass der Gedanke und die Praxis der Versöhnung entschieden gegen eine immer wieder aufkommende "Schlussstrichmentalität" stehen. Denn Versöhnung und der vielberufene Schlussstrich unter das Vergangene vertragen sich nicht. Zwar gibt es im politischen Alltagsgeschäft immer wieder den Versuch - und die Versuchung -, Versöhnung dadurch zu erreichen, dass die Geschichte beiseite gelegt, weggewischt wird. Aber wir haben immer wieder die Erfahrung machen können, dass dies auf lange Sicht nicht funktioniert. Denn die Macht der Geschichte ist von durchdringender und lang anhaltender Kraft. Besonders gilt dies für die dunklen Seiten der Vergangenheit. Die Erfahrungen von erlittener ungerechter Gewalt, von Demütigungen und Erniedrigung traumatisieren die Opfer, und auch die Täter bleiben im Bann der Unrechtsgeschichte gefangen. Schuldbehaftete Vergangenheit prägt die einzelnen Menschen ein Leben lang, Gesellschaften oft über Generationen.
Diese von Historikern, Anthropologen und Psychologen vielfältig belegte Einsicht ist uns Christen alles andere als fremd. Das Bußsakrament, das wir auch das Sakrament der Versöhnung nennen, gründet sowohl theologisch wie anthropologisch genau hier: dass Schuld nur vergeben werden kann, wenn sie eingestanden und bereut wird; und dass ein neues Zueinander - Versöhnung eben - nur erreicht werden kann, wenn die Folgen der Schuld, soweit möglich, überwunden werden. Nur so - und eben nicht indem die schuldbeladene Geschichte einfach übersprungen wird - kann dann auch wieder so etwas wie eine gute Normalität entstehen.
Das Mühen um echte Versöhnung stellt sich dem Geschehenen mit größtmöglicher Wahrhaftigkeit. Dabei geht es nicht um ein wertfreies historisches Interesse, sondern um Erinnerung. Alle Individuen, gesellschaftlichen Gruppen und Völker haben solche Erinnerungen, die zutiefst das Denken und Empfinden, das eigene Selbstverständnis, ihre Identität bestimmen. In der Erinnerung wird Geschichte gedeutet, und in dieser Deutung wird sie lebensbestimmend gegenwärtig. Der Krieg auf dem Balkan im zurückliegenden Jahrzehnt hat auf drastische Weise gezeigt, wie die jeweilige Erinnerung an teilweise weit zurückliegende Ereignisse die Einstellung der verschiedenen Völker zueinander prägen kann. Die Kroaten erschienen den Serben als die Nachfolger der faschistischen Ustashas aus dem Zweiten Weltkrieg, die Serben waren in den Augen der Kroaten die wiedererstandenen mörderischen Tschetniks. Dieses Beispiel zeigt nicht nur, wie kraftvoll und auch wie zerstörerisch historische Erinnerungen wirken, es macht auch deutlich, wie manipulationsanfällig Erinnerungen sind. Denn auch im ehemaligen Jugoslawien begegnen wir nicht einem sozusagen naturwüchsigen Erinnern. Es gab vielmehr lang dauernde Anstrengungen nationalistischer Kreise, die Deutungshoheit über das nationale Erinnern zu erlangen.
Erinnerung ist deshalb keineswegs schon von sich aus versöhnungsfördernd. Anfang und Grundlage der Versöhnung ist sie vielmehr nur da, wo Erinnerung sich dem Leiden und dem Unrecht und vor allem eben dem Leiden der anderen, dem Unrecht, das ihnen angetan wurde, stellt und die Schuld nicht ausblendet. Die Erinnerung, die uns abverlangt ist, ist also eine qualifizierte Form des Erinnerns, ein Erinnern, das den Zusammenhang zwischen Freiheit, Moralität und Geschichte wahrt - und gerade deshalb von der Hoffnung begleitet ist, dass Schuld und Leiden, Verbrechen und Verwüstung nicht das letzte Wort der Geschichte sein müssen.
In diesem Sinne ist das bekannte jüdische Weisheitswort zu verstehen: "Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnern". Aus diesem Geist leben auch die christliche Hoffnung auf und das Engagement für Versöhnung. Die Erinnerungskultur, an der es zu arbeiten gilt, muss den Menschen in seiner Freiheit und damit auch in seiner Schuldfähigkeit ebenso ernst nehmen wie die Deformationen und Traumatisierungen, die erfahrenes Leid mit sich bringen können. Sie muss die Perspektiven der Opfer in den Mittelpunkt rücken, aber auch dem Täter die Umkehr zutrauen.
Vor diesem Hintergrund ist es eine der wesentlichen Aufgaben des Versöhnungsfonds, Projekte zu unterstützen, die die Erinnerung an das nationalsozialistische Gewaltregime wachhalten, das Gedenken an die Opfer fördern und das Verständnis für ihre Situation vertiefen. Diese Arbeit hat auch mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Nationalsozialismus nichts von ihrer Bedeutung verloren. Das Erstarken neonazistischer und ähnlicher rechtsextremistischer Bewegungen, die dramatische Zunahme von Gewalttaten gegen Ausländer, Juden und andere Minderheiten in Deutschland zeigt dies ja auf besonders drastische Weise. Zwar wird unsere Gesellschaft den Kampf gegen diesen Ungeist und diese Untaten nur mit einer Vielzahl von Maßnahmen gewinnen können, aber er wird überhaupt nur zu gewinnen sein, wenn sich die Gesellschaft des Wertekonsenses versichert, der nicht zuletzt in der kollektiven Erfahrung mit dem nationalsozialistischen Unrechtsstaat wurzelt.
Eine besondere Herausforderung für die Erinnerung an die nationalsozialistische Gewaltherrschaft liegt heute zweifellos darin, dass die Erlebnisgeneration langsam ausstirbt und es nicht immer leicht fällt, jungen Leuten einen angemessenen Zugang zu einer historischen Verantwortung zu erschließen, die nichts mit persönlicher Schuld zu tun haben kann. Darüber hinaus hat unser Land in den vergangenen Jahrzehnten eine große Zahl von Einwanderern aufgenommen, die mit ihren Kinder in anderer Weise vor der deutschen Geschichte stehen als die Kinder derjenigen, deren Eltern und Großeltern während der nationalsozialistischen Zeit in Deutschland gelebt haben und die deshalb anders in den historischen Zusammenhang eingebettet sind. Das Bemühen um gesellschaftliche Erinnerung wird dieser Situation Rechnung tragen müssen. Erinnerung ist nie ein für allemal abgeschlossen und kann späteren Generationen nicht einfach übergestülpt werden. Sie ist ein lebendiger Prozess und die entscheidenden Erfahrungen können überhaupt nur weitergegeben werden, wenn neue Generationen mit ihren Fragen und lebensgeschichtlichen Horizonten diesen aktiv mitgestalten.
III. Versöhnung braucht Begegnung
Hier ist schon angedeutet, dass Erinnerung und Begegnung eng verschwistert sind. Denn in einem Prozess der Versöhnung geht es ja nicht allein darum, dass jede Seite die Wahrhaftigkeit der eigenen Erinnerung nicht scheut. Es ist unabdingbar, die Erinnerungen der anderen zu Wort kommen zu lassen und sich mit deren Erinnerungen zu konfrontieren.
Die Versöhnungsarbeit der vergangenen Jahrzehnte bestand darum folgerichtig zu wesentlichen Teilen aus Begegnungen. Kundig angeleitet und begleitet, kann Begegnung Menschen tiefgreifend verändern. Unzählige Gemeinden und Diözesen können dies aus langer Arbeit bezeugen. Ich denke hier auch an Pax Christi, das diesen Weg unmittelbar nach dem Krieg gemeinsam mit den französischen Partnern gegangen ist und ihn, wenn auch in anderer Form, heute z.B. in Bosnien-Herzegowina beschreitet. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken hat sehr frühzeitig begonnen, intensive Kontakte nach Polen aufzunehmen und so dazu beigetragen, dass die Katholiken beider Länder trotz des unermesslichen Leidens, das dem polnischen Volk während des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges zugefügt wurde, wieder zueinander finden konnten. Man kann auch auf die ökumenische Aktion Sühnezeichen verweisen, ebenso wie auf die Deutsche Kommission Justitia et Pax, die mit ihren Exposure- und Dialogprogrammen die Begegnung von Deutschen mit Armen in Entwicklungsländern und neuerdings auch in Südosteuropa ermöglicht. Immer geht es dabei darum, dass die Geschichte den Beteiligten in den konkreten Lebensgeschichten der anderen nahe kommt.
Der Versöhnungsfonds will solche Begegnungsarbeit verstärken helfen und möglichst auch neue, innovative Vorhaben unterstützen. Eine große Vielfältigkeit ist dabei nur wünschenswert. Das Spektrum reicht von eher informellem Austausch zwischen hiesigen und ausländischen Gruppen, bei denen sich nicht immer schon von vornherein absehen lässt, ob die Begegnung tiefere Wurzeln schlagen wird, über langfristig und systematisch angelegten Dialog - z.B. zum Verhältnis von Juden und Christen - bis hin zur sozialen Betreuung etwa von ehemaligen KZ-Opfern.
Besondere Bedeutung sollte auch in Zukunft die Begegnung mit den Opfern des Nationalsozialismus und mit Menschen aus den von Deutschland angegriffenen Ländern haben. Diese Aufgabe wird in den kommenden Jahren umso wichtiger werden, als die meisten Zeitzeugen der Nazi-Zeit bereits gestorben sind und in der näheren Zukunft letztmals die Chance besteht, jungen Menschen, denen der NS-Terror und der Zweite Weltkrieg manchmal so weit entrückt scheinen wie der Dreißigjährige Krieg, eine konkrete menschliche Brücke zu dieser Zeit zu bauen.
Die Erfahrungen des Maximilian-Kolbe-Werkes, das sich seit Jahrzehnten der materiellen Unterstützung und der menschlichen Zuwendung für ehemalige Konzentrationslager-Häftlinge widmet, belegen, welche heilende Kraft in der Begegnung steckt. Viele Überlebende empfinden es als hoffnungsvolles Zeichen, wenn junge Menschen, die aus dem gleichen Volk stammen wie ihre ehemaligen Peiniger, ihnen einfach zuhören und ehrliches Interesse an ihren Lebensgeschichten zeigen. Die Begegnung, die zwischen den Zeitgenossen nach all dem Geschehenen oft nicht möglich war, wird Realität im hilfreichen Bemühen junger Freiwilliger um die Überlebenden. Der Blick in die gewandelten Augen der jungen Generation hat vielen dieser Opfer geholfen, mit der Vergangenheit leben zu können.
Gewiss wäre es auch mehr als wünschenswert, wenn innerhalb Deutschlands das Gespräch zwischen den Generationen einen neuen Anschub erhalten könnte. Dialog- und Begegnungsprogramme sollten den Jugendlichen Gelegenheit geben, mit der Erlebnisgeneration der 30er und 40er Jahre in Kontakt zu kommen. So können deren Erfahrungen von Krieg und Unterdrückung, aber auch von Mut und menschlicher Solidarität dem Vergessen entrissen und den Menschen einer anderen Generation überliefert werden. Solche Gespräche zwischen den Generationen sind manches Mal für alle Beteiligten anstrengend und bergen nicht selten auch Konfliktstoff. Aber sie können lehrreich sein - und zwar für beide Seiten.
IV. Gegen Gewaltherrschaft und Inhumanität in Europa
In all dem Gesagten ist mehrfach deutlich geworden, dass der Versöhnungsfonds - schon von seiner Genese her, dann aber auch hinsichtlich seiner inhaltlichen Orientierung - in der Gewaltherrschaft und im Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten seinen Ausgangs- und auch seinen inneren Bezugspunkt hat. Wir haben deshalb in den Förderrichtlinien festgehalten, dass die vom Fonds zu fördernden Projekte sich auf Europa beziehen müssen - auf jenen Großraum eben, in den sich fast überall die Spuren von Hitler-Deutschland eingeprägt haben und dessen Nachkriegsgeschichte durch die NS-Herrschaft zutiefst mitbestimmt worden ist.
Es ist dennoch nicht zu übersehen, dass der Nationalsozialismus - unbeschadet der Singularität seiner Verbrechen - nicht quasi ursprungslos über Deutschland und die europäischen Völker gekommen ist. Er antwortet vielmehr auf realgeschichtliche Krisenphänome, die auch andernorts vorhanden waren, und er steht im breiteren Kontext geistesgeschichtlicher Strömungen, sozialrevolutionärer Bewegungen und völkischer wie rassistischer Ressentiments und Ideologien, die sich in Reaktion auf die Krise der modernen Welt im Europa der 20er und 30er Jahre verbreiteten. Übersteigerten Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Fremdenfeindlichkeit und Verachtung gegenüber allem Schwachen gab es in dieser Zeit - und gibt es auch heute noch und wieder - in weiten Teilen Europas, und sie waren nicht nur bei den Faschisten zuhause. Die quasi-religiöse Heilserwartung und die Idee von eines Menschen gemachten geschichtlichen Endzustandes, die radikale Verneinung der christlichen und der humanistisch-liberalen Traditionen, totalitäre Herrschaftsformen, die um des geschichtlichen Projektes willen Millionen von Menschen opferten - all dies verbindet den Nationalsozialismus wiederum mit dem Stalinismus. Man verkleinert das Monströse der nationalsozialistischen Gewaltpolitik und ihrer Vernichtungsenergie darum in keiner Weise, wenn man anerkennt, dass es in den geschichtsmächtigen Herrschaftsideologien des zu Ende gegangenen Jahrhunderts strukturelle Ähnlichkeiten gibt. Je auf ihre Weise haben sie zu der unermesslichen Blutgeschichte Europas, zu lang anhaltender Unterdrückung und Gewalt beigetragen. Eine große Zahl von Menschen hat nacheinander unter verschiedenen Formen von Systemunrecht gelitten. Und nicht wenige Europäer sind in Folge der Ergebnisse der nationalsozialistischen Politik in die Klauen eines anderen menschenverachtenden Regimes geraten.
Der Einsatz der Katholischen Kirche in Deutschland für die Achtung der Menschenwürde, für Frieden und Aussöhnung und nicht weniger das Bemühen der vielen größeren und kleineren christlichen Initiativen sollten dieser historischen Konstellation gerecht zu werden versuchen. Gerade unsere Erfahrungen mit der völkischen Politik des "Dritten Reichs" erlauben es uns nicht, bei "ethnischen Säuberungen" auf dem Balkan beiseite zu treten. Gerade unsere Erfahrung, wie leicht es ist, nach der Beendigung eines Gewaltregimes dessen Opfer mehr oder weniger zu ignorieren, macht es uns zur Verpflichtung, für die Opfer von Systemunrecht auch anderswo einzutreten.
Was unsere Möglichkeiten betrifft, andernorts zur Versöhnung beizutragen, ist uns jedoch ein strenger Realismus abverlangt. Versöhnung kann man nicht einfordern - schon gar nicht von den Opfern. Man kann sie auch nicht mit friedenswissenschaftlicher und psychologischer Raffinesse gleichsam sozialtechnisch herbeiführen. Unseren Möglichkeiten sind hier enge Grenzen gesetzt. Wohl aber können wir leise, unaufdringlich und dabei beharrlich unseren Dienst tun. Die therapeutische und soziale Betreuung von vergewaltigten Frauen in Bosnien-Herzegowina - um hier nur ein Beispiel zu nennen - wird vielleicht nie dazu führen, dass diese Frauen je wieder auch nur ein Wort mit ihren Peinigern zu sprechen bereit sind. Aber diese Arbeit hilft möglicherweise, dass solche Frauen sich wieder aufrichten können und weder sich selbst noch andere zerstören. Sie trägt vielleicht dazu bei, dass diese schrecklich gequälten Frauen ihre Kinder nicht den Hass auf das Volk lehren, aus dem die Täter kamen. Wenn das erreicht würde, wäre viel erreicht. Und es braucht Tausende solcher Samenkörner, damit über den Gräbern der Geschichte irgendwann Keime der Versöhnung aufgehen können.
Auch zu solchen Initiativen wollen wir mit dem Versöhnungsfonds aufrufen und etwas dazu beitragen, dass sie verwirklicht werden können. Das oft scheinbar Vergebliche - und, jedenfalls nach menschlichen Maßstäben, manches Mal tatsächlich Vergebliche - sollte der Christ leichter ertragen können als andere. Im Glauben weiß er, dass Versöhnung letztlich immer ein Geschenk Gottes ist. Sie steht in Seiner Macht, nicht in unserer. An uns aber ist es, Seiner Macht Wege zu bereiten.

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