| Pressemeldung

Stunde des Aufbruchs? – Nachlese und Programm

Kurz-Vortrag des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Kardinal Lehmann, beim St. Michael-Jahresempfang am 27. September 2005 in Berlin

Es gilt das gesprochene Wort!

Viele Ereignisse liegen hinter uns, die uns freilich auch noch in Zukunft bestimmen werden. Dies gilt für den Staat, die Gesellschaft und die Kirche. Deshalb scheint es mir angebracht zu sein, beim Michael-Empfang dieses Jahres eine kleine Nachlese zu versuchen, um daraus wenigstens einige Perspektiven für die Zukunft zu entwerfen.

Vor wenigen Tagen hat der Vatikan – was meines Erachtens so noch nicht der Fall war – einen ausführlichen Bericht über die letzten Tage und das Sterben von Johannes Paul II. veröffentlicht (vgl. den deutschen Text in der FAZ, 23.09.05, S. 13). Was aber die Menschen zu dieser weltweiten Teilnahme geführt hat, erklärt sich nicht nur von dem hohen Amt her, sondern mehr noch von der Art seines Lebens und Sterbens. Seine letzten Worte, „mit ganz schwacher Stimme murmelnd, auf polnisch“, lauteten: „Lasst mich ins Haus des Vaters gehen.“ Nach der Sitte seiner Heimat leuchtete eine kleine Kerze im halbdunklen Raum. In diesen Stunden trat alles Amtliche und Pompöse zurück. In der ihm eigenen Vorliebe für die Öffentlichkeit starb er hier als Christ gewiss seinen eigenen Tod. So hat er der Welt und der Kirche bis zum Schluss ein eigenes, öffentliches und doch auch so persönliches Zeugnis geschenkt. Noch heute pilgern die Menschen in St. Peter unaufhörlich zu seinem Grab.

Die Kardinäle haben im Grunde bei ihrer raschen Wahl doch nur einem zugetraut, dieses Erbe von Johannes Paul II. schöpferisch zu bewahren und treu fortzusetzen. Der Präfekt der Glaubenskongregation, Joseph Kardinal Ratzinger, kannte wie wenige den verstorbenen Papst und arbeitete eng mit ihm zusammen. Als weltweit bekannter und anerkannter Theologe hatte er auch auf diesen in allem recht selbstständigen Papst großen Einfluss. Als Dekan des Kardinalskollegiums schuf er in maßgeblicher Weise den Übergang, den Abschied und die Neuwahl. Auch wenn er seit bald 24 Jahren in Rom ist und in gewisser Weise der Weltkirche gehörte, so ist mit ihm doch zur großen Freude, vor allem auch seiner Landsleute, nach 480 Jahren ein Papst aus Deutschland gewählt worden.

Nach 26 Jahren Regierungszeit des polnischen Papstes war es nicht leicht, einen eigenen und neuen Anfang zu schaffen. Aber Benedikt XVI. hat tatsächlich leise und bescheiden, aber zugleich seines Amtes bewusst und durchaus auch mit etwas verborgener Freude diesen Anfang selbstständig geprägt (vgl. die Sammlung der Predigten und Ansprachen April/Mai 2005 unter dem Titel „Der Anfang“, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 168, Bonn 2005, 98 Seiten). Man darf gewiss auch davon ausgehen, dass der Hl. Vater im bevorstehenden Herbst seine Handschrift noch deutlicher zeigen wird, angefangen mit der Eröffnung der Weltbischofssynode am kommenden Sonntag, 2. Oktober, zum Thema Eucharistie. Andere wichtige Ereignisse fallen in die Zeit der Weltbischofssynode (bis 23. Oktober), so z. B. die Seligsprechung von Clemens August Kardinal von Galen, der „Löwe von Münster“, am 9. Oktober.

Hatte Papst Johannes Paul II. noch zum Weltjugendtag nach Köln eingeladen, so war dieser XX. Weltjugendtag zwar immer noch unter dem Eindruck der Größe und des Sterbens dieses von der Jugend besonders geliebten Papstes, aber es war zugleich - außerhalb des Vatikans und Italiens – auf internationalem Boden und in seiner Heimat eine große Ouvertüre für Papst Benedikt XVI. Sein bescheidenes und zugleich menschlich gewinnendes Auftreten, seine wohlbedachten Worte und seine sparsamen, aber ausdrucksstarken Gesten haben rasch die Menschen und besonders auch die Jugend gewonnen (vgl. Predigten, Ansprachen und Grußworte im Rahmen der Apostolischen Reise von Papst Benedikt XVI. nach Köln anlässlich des XX. Weltjugendtages = Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 169, Bonn 2005, 129 Seiten).

Dabei darf man nicht vergessen, wie sehr der gewaltsame Tod von Roger Schutz diese Tage mitbestimmte. Der Prior von Taizé war im Geist und im Gebet als Pionier der Ökumene und Freund der Jugend immer gegenwärtig. Der Evangelische Kirchentag vom 25. bis 29. Mai in Hannover hat wie in Ulm im vergangenen Jahr unter Beteiligung auch vieler katholischer Mitchristen gezeigt, dass man auch nach dem großen Ökumenischen Kirchentag von 2003 eigenständige Kirchentage und Katholikentage – wie auch im nächsten Jahr in Saarbrücken – feiern kann, die gewiss von den gemeinsamen Tagen in Berlin inspiriert sind. Der siebenjährige Rhythmus bis München 2010 wird darum auch den Schwung für dieses gemeinsame Zeugnis des Glaubens nicht erlahmen lassen. Am 25. September haben wir auf den Tag genau den Abschluss des Religionsfriedens vor 450 Jahren in dem an ökumenischen Ereignissen so reichen Augsburg in Erinnerung gebracht. Dieser Tag hat uns wiederum gezeigt, wie mühevoll der erbitterte Streit mit unzähligen gewalttätigen Folgen für viele Menschen des äußeren Friedens und der öffentlichen Sicherheit halber vom frühneuzeitlichen Staat beigelegt werden musste, weil die Kirchen selbst von sich aus im Streit um die Wahrheit zu keiner Versöhnung kamen. Wenn der Augsburger Religionsfrieden 1555 zweifellos auch viele Errungenschaften nicht nur für die Lutheraner, sondern auch für die allmähliche Herausbildung des modernen Rechtstaates und auf längere Sicht auch für die Gewährung uneingeschränkter Religionsfreiheit brachte, so sind wir heute in einer anderen Hinsicht die wahren Erben dieser Friedensbemühungen, denn der Augsburger Religionsfrieden sollte ja eine vorläufige Zwischenlösung sein, bis es zu einer Wiederherstellung der Einheit von Reich und Kirche kommen sollte. Die heutige Ökumene ist mit eine Frucht von Augsburg 1555. Auch wenn unsere intensiven ökumenischen Bemühungen noch nicht zum Ziel führten, so sind wir doch unterwegs dahin. Es gibt dazu nicht die geringste ernsthafte Alternative. Deswegen wollen wir uns auch durch Verzögerungen und momentane Rückschläge auf diesem Weg nicht entmutigen lassen.

Die vergangenen Monate waren ungewöhnlich reich. Aber es bleibt uns nicht die herausfordernde Frage erspart, ob es bei der rückwärts gewandten Nachlese bleibt oder ob dies alles auch eine Stunde des Aufbruchs wird. Das von Sympathie begleitete Wort Aufbruch, das uns schon in der deutschen Sprache des 13. Jahrhunderts begegnet, ruft den Beginn einer Reise oder eines Weges in Erinnerung, oder abstrakter: „inchoative Tätigkeiten“ (vgl. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 24. Aufl., Berlin 2002, 71). Das Wort erinnert uns auch unwillkürlich an das große Vorbild allen Aufbruchs, nämlich an Abrahams Berufung und Wanderung nach Kanaan: „Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein.“ (Gen 12,1 f.) Zu jedem Aufbruch gehört die bange Frage, wohin denn die Reise geht. Ein schmerzlicher Abschied von Vertrautem, seien es Menschen oder Orte, fehlt nie. Es bleibt auch gerade in der Fremde eine Ungewissheit, ob man das Ziel vollends erreicht, aber ohne den Mut zum Wagnis kann auch die Verheißung „Ein Segen sollst du sein“ nicht eintreffen.

Was folgt aus dem, was wir erlebt haben, wenn es nicht nur als historisches Ereignis in den Akten der Geschichte abgeheftet, sondern als Pfeil der Orientierung für heute und morgen betrachtet wird? Lassen Sie mich in aller Kürze wenigstens eine programmatische Perspektive skizzieren.

Schon lange wird eine „Wiederkehr der Götter“ beschworen. Daran glauben wir nicht. Aber die vergangenen Jahre haben auch gezeigt, dass die lange Zeit unbefragten Dogmen von einem baldigen Ende der Religion in der säkularen Gesellschaft und von einem unaufhaltsam sich steigernden Säkularisierungsprozess erschüttert sind. Wir wollen uns freilich nichts vormachen. Religion, Glaube und Kirche erreichen viele Menschen nicht mehr und werden oft an den Rand unseres Lebens gedrängt. Aber die elementaren Fragen nach dem Woher und Wohin des Menschen, nach der Überwindung von Unheil, auch nach tieferen Motiven zu Reformen können zwar bei den Menschen tief verschüttet sein und entstellt werden, aber die Reaktion der Menschen nach dem 11. September 2001, den Terroranschlägen von Madrid und London sowie den Naturkatastrophen der Tsunamis in Südostasien Ende des letzten Jahres und nun nach der Hurrikan-Katastrophe im Süden der USA haben gezeigt, dass die Frage nach einem letzten Warum nicht einfach zum Erlöschen gebracht werden kann. Woher haben wir trotz aller Ausweglosigkeit und Vergeblichkeit dennoch Hoffnung und Zuversicht?

Auf andere Weise haben uns dies die jungen Menschen vor allem bei den Weltjugendtagen der letzten Jahre und nun besonders in unserem eigenen Land in Köln vor Augen geführt. Da gab es durchaus Anzeichen für eine Wiederkehr des Religiösen. Sie hat gewiss in manchem etwas eigene Züge, wenn man im Unterschied zu unseren oft intellektuell überzüchteten Glaubenssystemen an den spontanen Enthusiasmus und die unbändige Begeisterungsfähigkeit denkt. In der Tat muss der Glaube Herz und Sinn, Leib und Seele erfassen, wenn er auch in unserem Leben Kraft gewinnen will. Aber man soll diesen wirklichen Aufbruch nicht diffamieren und ihn mit blindem Fanatismus oder mit einem irrationalen Taumel gleichsetzen. Wenn es nämlich vor allem in den Gottesdiensten zum Evangelium, zur Predigt, zum Hochgebet und zum Kommunionempfang kam, dann haben die jungen Leute ganz von selbst zur Stille und zum Schweigen, zu Ordnung und Ehrfurcht gefunden, ganz abgesehen vom Geist der Anbetung in der Vigilnacht des Weltjugendtages.

Da ist ein echter Aufbruch. Wir können den jungen Menschen und den künftigen Generationen etwas zutrauen. Sie haben durchaus Mut zur Zukunft, wenn wir ihnen dies nicht vermiesen. Sie wissen, dass sie in einer anderen Welt leben werden, die sich verändert. Sie bleiben nicht einfach an den Fleischtöpfen Ägyptens kleben. Sie haben den Mut, neue Wege zu gehen, auch zueinander. Aber sie müssen deshalb auch Unterstützung erfahren. Fordern und Fördern gehören unabdingbar zusammen.

Auch die Diskussion im philosophischen und religionssoziologischen Bereich macht uns Mut zu einem solchen Aufbruch im Sinn einer Wiederkehr des Religiösen. Die Motivation für die notwendigen Maßstäbe des menschlichen Zusammenlebens ist vielfach erschöpft. Jürgen Habermas möchte auch den Nichtglaubenden zumuten, einmal das verborgene Potenzial religiöser Wahrheit zu testen, ob denn nicht ein kräftigerer Anreiz zur Bewältigung unserer Krisen in ihnen steckt. Das Religiöse in diesem Sinn ist mindestens gleichberechtigt mit dem säkularen Zweifel und der bequemen Gleichgültigkeit, erst recht mit billiger Egozentrik.

Diesen neuen Schwung brauchen wir ganz gewiss. Wir streben stets nach Sicherheit und sind gerne risikoscheu. Wir wollen zwar Freiheit für unsere Bequemlichkeiten, wollen aber zugleich mit dieser Freiheit recht gleichmacherisch umgehen. Wenn Unterschiede entstehen, rufen wir schnell nach Ungerechtigkeit. Freilich mangelt es nicht weniger an sozialer Sensibilität. Dabei geht es nicht um die Weigerung zum Umbau auch unseres Sozialstaates, sondern wir brauchen mehr Empfindsamkeit für wirkliche Ängste von Menschen, wenn sie z. B. auch bei bisher grundsoliden Arbeitsverhältnissen Rücksicht aufeinander, Treue und Verlässlichkeit vermissen oder mindestens ihren Verlust befürchten. Wir dürfen zwar Menschen gerade auch aus den Motiven des Glaubens heraus Aufbrüche zumuten, aber nicht in Ängste hineinjagen. Die allermeisten wissen schon, dass sie sich bewegen müssen, aber sie wollen nicht in Reformen hineingehetzt werden, zumal viele sich oft als schlecht kalkuliert, überstürzt und fehlerhaft gezeigt haben. Wer wirklich Mut zum Aufbruch hat, der ist auch bereit zur Reform der Reform, wenn sie sich als notwendig erweist. Reformbereitschaft allein genügt noch nicht.

Schließlich braucht es Vorbilder, die vorangehen und andere mitziehen. Nur das lebendige Beispiel zündet schließlich. Wo aber sind unsere Vorbilder? Wer preist unseren jungen Zeitgenossen nicht immer wieder – nicht selten auch aus rein ökonomischen Motiven – aus Politik und Kunst, Sport und Unterhaltung Stars und Sternchen an, die eben keine Vorbilder sind. Die jungen Menschen – gewiss sind es oft nur Minderheiten, aber sie verändern die Welt – suchen sie unentwegt. Und sie finden sie auch heute noch gar nicht so selten in der Religion und in den Kirchen, z. B. bei Johannes Paul II. und Roger Schutz.

Ich spreche über das Thema „Stunde des Aufbruchs?“. Es gibt Chancen, die nie mehr wiederkommen. Es gibt die Gunst einer Zeit, die einmalig ist. Man kann den „Kairos“ unwiederbringlich verschlafen. Wir versäumen schon lange die Aufgaben der demografischen Entwicklung, obgleich wir alles längst wissen. Wir zerstören und gefährden unsere schöpfungsmäßigen Lebensbedingungen, ohne an die Zukunft junger Menschen zu denken. Wir erlauben uns Staatsverschuldungen, indem wir den künftigen Generationen geradezu unbezahlbare Lasten auf die Schultern laden. Wir brauchen neue Grundhaltungen, von denen wir, die deutschen Bischöfe, im Aufruf zur Bundestagswahl am 18. September ausführlicher sprachen.

Damit die Stunde des Aufbruchs wirklich genützt wird, bedarf es bei aller Sensibilität und Einfühlungskraft in die Situation der Menschen mutiger Entscheidung und auch der Risikobereitschaft. Wir dürfen keine Angst haben vor frischem Wind. Wir dürfen auch keine Angst haben vor der Stärke des Anderen, weder in der Globalisierung und auch nicht in der Ökumene. Wir brauchen dringend Vertrauen in uns selbst. Wir stehen dabei nie allein. Wir haben einen Gott, der uns beim Aufbruch begleitet. Wir haben auch immer wieder viele Vorbilder. Nicht zufällig ist Abraham ein „Vater des Glaubens“ für Juden, Christen und Muslime. Darum sprechen wir auch von den abrahamitischen Religionen. Nur wenn wir den Aufbruch wagen, werden wir auch, wie die Verheißung Gottes lautet, füreinander ein Segen sein.

Cookie Einstellungen

Wir verwenden Statistik Cookies um zu verstehen, wie Sie mit unserer Webseite interagieren.

Anbieter:

Google

Datenschutz

Matomo

Datenschutz

Diese Cookies sind für den Betrieb der Webseite zwingend erforderlich. Hier werden bspw. Ihre Cookie Einstellungen gespeichert.

Anbieter:

Deutsche Bischofskonferenz

Datenschutz