| Pressemeldung

Statement von Erzbischof Dr. Ludwig Schick bei der Vorstellung der Studie "Was Männern Sinn gibt ... - die unsichtbare Religion kirchenferner Männer" am 13. Mai 2005 in Nürnberg

Würdigung
Die Studie ist besonders für die Männerpastoral und -arbeit, aber auch für die ganze Kirche interessant und hilfreich. Der "Abschlussbericht zum Forschungsprojekt" vermittelt anhand von 60 Interviews, die meist wörtlich wiedergegeben sind, ein lebendiges Bild von "kirchenfernen Männern" und von deren Auffassungen über Religion. Die Interviewten sprechen verschiedene Aspekte der Religion an. Dazu gehören z. B. Sinn des Lebens, Bewältigung des Lebens, Partnerschaft und Familie, Ethik, Glaube und Religion, Kirche, Kirchenzugehörigkeit und Kirchenaustritt. Der Leser kann sehr viele interessante Informationen aus erster Hand erhalten. Die oft wörtliche Wiedergabe der Interviews vermittelt einen direkten Zugang zu den Äußerungen und Meinungen der Befragten. Die "Zusammenfassungen" nach jedem Abschnitt erleichtern das Verständnis der Interviews und helfen bei der Umsetzung.
Herzlicher Dank gilt dem "Institut zur Erforschung der religiösen Gegenwartskultur" der Universität Bayreuth, namentlich Herrn Professor Dr. Christoph Bochinger und Herrn Dr. Martin Engelbrecht sowie allen ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern!
Der besondere Wert der Studie besteht für die Kirche und besonders für die, die sich in ihr um die Männerpastoral und -arbeit bemühen, darin, dass sie viel zum Nachdenken gibt. Mich persönlich hat der Abschlussbericht zum Forschungsprojekt "Was Männern Sinn gibt" aufgewühlt und unruhig gemacht. Er hat vor allem die Frage in mir aufkommen lassen: Was kann die Kirche tun, um mit den kirchenfernen Männern ins Gespräch zu kommen und sie mit der Frohen Botschaft des Evangeliums in Berührung zu bringen?
Die Studie befasst sich mit den kirchenfernen Männern; es gibt Gott sei Dank auch viele kirchennahe, von denen sich ein großer Teil auch vorbildlich und bewundernswert ehrenamtlich in der Kirche engagiert. Aber zur Gruppe der Kirchenfernen gehören viele, diese Gruppe wird auch immer größer. Sich mit ihnen zu befassen, bedeutet, einen Trend wahrzunehmen. Die pastoralen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, können helfen, die Kirchennahen zu bestärken und die Kirchenfernen zurückzuführen. Deshalb hat die Studie allgemeine Bedeutung.Erkenntnisse und Ergebnisse
Die Studie ist nicht repräsentativ. Ihre Ergebnisse stimmen aber mit anderen repräsentativen Umfragen zu gleichen oder ähnlichen Themen überein. Vor allem werden die Erkenntnisse der Studie von den Philosophen und den Gesellschaftsanalytikern der "Postmoderne" gestützt. Die Studie "Was Männern Sinn gibt" zeigt, dass die Einstellung und Verhaltensweise der Postmoderne die Männer in unserer Gesellschaft prägen.
Die Postmoderne wird definiert durch die Begriffe 'Pluralisierung', 'Individualisierung' und 'Segmentierung'. 'Event- und Wanderkultur', 'Funktionalismus' und 'Utilitarismus'. Der Mensch der Postmoderne lehnt einen universalen Wahrheitsanspruch im Bereich der Philosophie, Religion, Lebenshaltung und Weltanschauung ab. Er hinterfragt kritisch Geschichte, Institutionen, Ideologien, Utopien und Religionen. Die Postmoderne ist gekennzeichnet durch den Verlust traditioneller Bindungen. Die Postmoderne fordert und fördert aber auch positiv 'Toleranz', 'Freiheit' und 'Pluralismus' in Gesellschaft, Kunst und Kultur sowie 'Selbstbewusstsein', 'Eigenverantwortung' und 'Persönlichkeitsentwicklung'.
Die für die Studie interviewten Männer bekunden, dass die Postmoderne ihr Leben, auch bezüglich Religion, kennzeichnet. Sie lehnen ein umfassendes und allgemein gültiges Glaubens- und Ethiksystem, wie es das Christentum und die Kirche vertreten, ab. Fast allen, die sich geäußert haben, sind religiöse und kirchliche Institutionen suspekt, uninteressant, oder sie werden von ihnen hinterfragt. Sie werden aber nicht pauschal abgelehnt. Gesprächspartner aus der Kirche, die kompetent, menschlich akzeptiert und offen sind, werden gern angenommen, weil sie ggf. Hilfen für die Bewältigung des Lebens bieten können. Die Studie hat deutlich gezeigt, dass die Männer sich nicht, wie weithin angenommen, in einem positiven Sinn als "Kämpfer" verstehen. Sie fühlen sich vielmehr zum Kampf verurteilt, um zu überleben und zu leben. Dafür suchen sie Hilfen. Besonders die Natur, der Kosmos sowie Mitmenschen, vor allem die Familie, bieten solche Lebenshilfen. Aber auch der individuelle Glaube an Gott, der Kraft, Ruhe, Trost, Sinn und auch Ethik bedeutet, können dazugehören. Nicht zuletzt finden Männer im Dasein für ihre Kinder, in ihrer Arbeit, in Leistung, Erfolg und kreativen Hobbys Sinn für ihr Leben.Die Probleme der Postmoderne
Die Studie verdeutlicht, dass die Männer spüren: Die postmoderne Einstellung macht das individuelle und gesellschaftliche Leben schwierig. Die interviewten Männer leiden unter Stress, Bindungslosigkeit, Zukunftsangst und Einsamkeit, die in der postmodernen Lebenseinstellung ihre Ursache haben. Sie spüren, dass "das, was die Welt im Innersten zusammenhält" (Johann Wolfgang von Goethe), in der Gesellschaft nicht fehlen darf, weil sonst die Verlässlichkeit in allen Bereichen abhanden kommt. Die kirchenfernen Männer vermissen Treue und Beständigkeit, Vertrauen in den Nächsten und Hoffnung für die Zukunft. Viele leiden an diesen Mängeln und manche werden krank. An einen personalen Gott zu glauben, der das eigene Leben und auch die Geschichte trägt, fällt schwer. Deshalb fehlt es an Zuversicht. Gott wird - wenn überhaupt - meist als Chiffre für Kraft und Energie sowie Garantie für Ordnung und Beständigkeit bei Kontingenzerfahrung gesehen und utilitaristisch zur Lebensbewältigung benutzt.
Das viel zitierte Wort des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Böckenförde kommt in den Sinn. Er sagte: "Jede Gesellschaft lebt von Voraussetzungen, die sie sich nicht selbst geben kann." Die interviewten Männer wissen, dass jede Person und jede Gesellschaft einen Grundbestand an übereinstimmenden Überzeugungen bezüglich Gesetz, Recht, Sitte, Moral, Ethik und Verhalten braucht, diese aber derzeit weitgehend fehlen. Deshalb ist die Gesellschaft in großen Schwierigkeiten und das Leben des Einzelnen mit vielen Problemen belastet. Die Studie deckt sie auf und benennt Gründe für die derzeitigen menschlichen und gesellschaftlichen Probleme.Schlussfolgerungen für die KircheNeue Formen des Kommunizierens
Viele zeitgenössische Autoren, vor allem Philosophen und Theologen, schlagen neue Formen des Kommunizierens zur Lösung der Probleme der Postmoderne vor. Die fehlgeleiteten Formen des Individualismus, die Pluralisierung, die Segmentierung, der Utilitarismus könnten durch Kommunikation zum Positiven gewendet werden. Diese Auffassung vertreten Lyotard, Habermas, Beck, Giddens, Toulmin und Welsch. Sie wollen die negativen Auswirkungen der Postmoderne durch Kommunikation ins Bewusstsein bringen und dadurch Einstellungs- und Verhaltensänderungen bewirken. Habermas spricht vom kommunikativen Handeln. Toulmin will durch Kommunikation zum Humanismus der Aufklärung zurückkehren und Welsch spricht von der "transversalen Vernunft". In diese Kommunikation kann und soll sich die Kirche einbringen. Sie muss ihre Botschaft durch glaubwürdige Zeugen vertreten. Sie werden als Gesprächspartner auf Augenhöhe akzeptiert, wenn sie die Männer als selbstbewusste Partner voll und ganz anerkennen und ihnen die Freiheit in der Kommunikation ohne Wenn und Aber belassen. Die Kirche kann mit ihrem Lebenswissen aus dem Evangelium und ihrer Tradition dazu beitragen, dass Männer (und Frauen) den Sinn des Lebens finden. In allem hat sie dabei deutlich zu machen, dass sie im Auftrag Christi handelt, der von sich gesagt hat: "Ich bin gekommen, damit die Menschen das Leben haben und es in Fülle haben (Joh 10,10). So hilft sie auch, dass die Voraussetzungen, die jede Gesellschaft braucht, aber sich nicht selbst geben kann, vorhanden sind und dass das, was die Welt im Innersten zusammenhält, wiedergefunden wird.Natur, Kosmos, Mensch
Die Kirche muss die Menschen dort abholen, wo sie sind. Die unterschwelligen pastoralen Angebote wie Internetseelsorge, Citypastoral, offene Gesprächsgruppen und Meditationsangebote werden angenommen, die traditionelle Seelsorge weniger. Die Natur, der Kosmos und die Mitmenschen im persönlichen Umfeld haben bei den befragten Männern einen hohen Stellenwert. Sie sind für die befragten Männer die Kraftquellen ihres Lebens. In der Natur erahnen sie oft auch Gott. Das bedeutet, dass die Theologie und die Spiritualität die Bedeutung des ersten Glaubensartikels neu und intensiv reflektieren müssen. Dabei ist der ganze erste Glaubensartikel in den Blick zu nehmen: "Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde". In der Pastoral und in der Liturgie sollte Natur-, Mensch-, Christus- und Gotteserfahrung zusammengeführt werden. Diesbezüglich kann z. B. die Wallfahrtspastoral und -liturgie verstärkt werden. Sie lässt Natur und Menschengemeinschaft erleben. Dabei soll die Kommunikation untereinander, die auch zu einer echten Kommunikation mit Gott und dem Mitmenschen hinführen kann, gefördert werden. Intuitiv wissen die Männer, dass nur die vertrauensvolle und liebende Beziehung und Bindung an einen personalen Gott (Religion) und an die Menschen das schenken, was die Welt im Innersten zusammenhält. Das Christentum verkündet einen personalen Gott, es fördert die Persönlichkeitsentfaltung, fordert ethisches Verhalten und wirkt gemeinschaftsbildend. Deshalb kann es den Erwartungen der Männer an die Religion, für sich und ihr Leben hilfreich zu sein, entsprechen.Charismatische Persönlichkeiten
Die Studie hat gezeigt, dass die Männer Gesprächspartner aus den Kirchen suchen, die überzeugen. Die Kirche lebt vor allem aus Menschen, die charismatische Persönlichkeiten oder, anders gesagt, "Heilige" sind. Sie muss deutlich machen, dass sie kein "Beamtenapparat", keine "Institution" oder "Lehrgebäude" ist, sondern eine Gemeinschaft von geisterfüllten Zeugen der Frohen Botschaft Christi. Schwächen und Fehler der Kirchenleute wurden von den Männern hingenommen. Aus diesen Einsichten muss die Konsequenz gezogen werden, dass die Gewinnung und Ausbildung von authentischen christlichen Persönlichkeiten für den haupt- und ehrenamtlichen Dienst in der Kirche Priorität genießen müssen.Stärkung der Caritas und Diakonie
Die Caritas und Diakonie haben einen hohen Stellenwert bei den kirchenfernen Männern. Sie binden an die Kirche. Die Zusammengehörigkeit von Caritas, Diakonie und Kirche muss verdeutlicht werden. Das Zeugnis der Caritas und Diakonie für die Kirche sollte verstärkt werden.Erziehung und Bildung
Die Männer haben vor allem in ethischen Fragen Erwartungen an die Kirche. Sie soll diesbezüglich Helfer und Gesprächspartner besonders für die Kinder und die Jugendlichen sein. Kindergärten, Schulen und Jugendarbeit sollten deshalb bei zukünftigen pastoralen Planungen eine Bedeutung haben.Schlussbetrachtung
So ernüchternd die Studie ist, sie bietet viele Ansätze, um die Kirche wachzurütteln und sich zu besinnen. Sie enthält auch viele Anregungen für die Kirche. Sie weist ihr mannigfaltige Aufgaben zu. Jesus hat als eigentlichen und letzten Grund für sein Zugehen auf die Menschen die Einsicht benannt, dass er die Menschen wie Schafe erlebte, die umherirrten, ohne den Weg zu einem geglückten Leben zu sehen. In Jesu Nachfolge soll die Kirche zum glücklichen Leben der Menschen beitragen, wozu die Beziehung zum Mitmenschen und zu Gott gehört.
Die Studie hat das Verhältnis der Männer zur christlichen Botschaft und zur Kirche deutlich gemacht. Sie hat aufgezeigt, wie die Kirche gesehen, wo sie gebraucht wird und wie sie gefragt ist. Die Kirche soll dazu beitragen, dass die Menschen das Leben haben und es in Fülle haben (vgl. Joh 10,10). Nun muss das Nachdenken in der Kirche beginnen, müssen Veränderungen veranlasst und pastorale Konzepte zum Wohl der Männer, unserer Gesellschaft und unserer Zukunft erarbeitet werden.  Der Vortragsstil wurde beibehalten!

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