| Pressemeldung

"Solidarität braucht Eigenverantwortung. Orientierungen für ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem"

Statement des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Kardinal Lehmann, zur Vorstellung des Textes "Solidarität braucht Eigenverantwortung. Orientierungen für ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem" in der Pressekonferenz am 4. Juni 2003 in Berlin.


Das Bundeskabinett hat am vergangenen Mittwoch eine "Formulierungshilfe" für den Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Gesundheitssystems beschlossen. Diese Reform, die nun auf den Weg gebracht wird und bereits heftig umstritten ist, reiht sich ein in eine ganze Abfolge von Reformen, die Gesundheitsminister unterschiedlicher Parteien angegangen sind. Und ich brauche kein Prophet zu sein, um zu sagen, dass auch dies nicht die letzte Reform sein wird.

Das kann wohl auch nicht anders sein: Einerseits verändern sich sowohl die gesellschaftlichen Gegebenheiten als auch die medizinischen Möglichkeiten beständig. Das hat Auswirkungen auf die Kosten und die Strukturen des Gesundheitssystems. Andererseits wird man ein so komplexes System, das einen elementaren Bereich menschlichen Lebens wie die Gesundheit betrifft, nicht in einem großen Wurf reformieren können, soll diese Reform nicht übergroße Ungerechtigkeiten und Unsicherheiten produzieren.

Das darf nun aber nicht dazu Anlass geben, die Hände in den Schoß zu legen. Vielmehr ist ein Zweifaches nötig - und das ist Anlass unserer Stellungnahme, die wir Ihnen heute vorstellen wollen:

Das Wissen um den Reformbedarf muss sich mit echtem Reformwillen und Reformbereitschaft verbinden. Wir appellieren daher an alle Verantwortlichen in Politik und Interessenvertretungen, aber auch an die Bürger, Reformen anzugehen und zu unterstützen. Das bedeutet vielfach - und das ist schmerzhaft -, ein Denken in Kategorien der Besitzstandwahrung aufzugeben.Reformen brauchen eine klare Ausrichtung. So wenig die "Reform auf einen Schlag" möglich sein wird, so wenig führen kurzfristige Maßnahmen zur Bekämpfung einzelner Symptome weiter. Es werden eine Reihe von Reformschritten notwendig sein, die aber alle eine gemeinsame Ausrichtung verbinden muss, und diese kann nur auf den Menschen, auf seine Möglichkeiten und Bedürfnisse zielen. Wir haben deshalb einige Orientierungen entwickelt, die auf der Basis ethischer Kriterien die Richtung von Reformen deutlich machen wollen - ohne dass es unsere Aufgabe als Kirche sein kann, einzelne Maßnahmen vorzuschlagen.Sie sehen hieran, dass der Text nicht ein Kommentar zu den Reformplänen der Bundesregierung und auch nicht zu den Vorstellungen der Opposition sein will. Es wird nicht weiter führen, wenn man versuchen wollte, einzelne Maßnahmen aus dem Text als übereinstimmend oder nicht übereinstimmend mit verschiedenen politischen Positionen deuten zu wollen.

Lassen Sie mich deshalb noch ein wenig auf den Reformbedarf und die notwendige Ausrichtung von Reformen - beides gilt auch für andere Bereiche der sozialen Sicherung - hinsichtlich des Gesundheitssystems eingehen, bevor Herr Bischof Reinelt Sie durch die Stellungnahme führen wird.

Zunächst stehen wir vor der Tatsache, dass die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen permanent steigt und weiter steigen wird. Dies hat mehrere Ursachen, u.a.: eine allgemeine Steigerung der Ansprüche an Gesundheitsleistungen in wohlhabenden Gesellschaften, die Ausweitung des medizinisch Möglichen, die sich schon bald dramatisch verschärfende demographische Schieflage. Außerdem schwindet gleichzeitig die Finanzierungsbasis zusehends. Auch dies hat mehrere Ursachen: die durch die demographische Entwicklung abnehmende Zahl an Beitragszahlern, der sinkende Anteil der für die Beitragszahlung relevanten Erwerbseinkommen an allen Einkommen und die Verfestigung der Massenarbeitslosigkeit sowie politische Entscheidungen, die Mittel der Gesetzlichen Krankenversicherung anderweitig genutzt haben. Diese externen Reformanlässe werden durch systemimmanente Schwierigkeiten noch verstärkt: die zuweilen übermächtigen Interessenvertretungen, der Vorwurf der Vernachlässigung größerer Einsparpotentiale, eine mangelhafte Qualitätssicherung, aber auch eine zuweilen übertriebene Anspruchshaltung eines Teiles der Versicherten.

All dies stellt uns vor die Notwendigkeit, mit knappen Ressourcen sparsam umzugehen. Dies fordert natürlich eine möglichst hohe Effizienz des Systems. Doch das allein wird nicht ausreichen. Man wird nicht umhin kommen, eine Grundfrage unserer sozialen Sicherung neu zu stellen:

Die soziale Sicherung dient dazu, dass die Gemeinschaft solche Risiken trägt, die vom einzelnen nicht getragen werden können. Die Solidarität aller tritt dann ein, wenn der Einzelne überfordert ist. Ein jeder hat sich dann an dieser Solidarität im Rahmen seiner Möglichkeiten zu beteiligen. Niemand darf jedoch diese Solidarität über das notwendige Maß hinaus in Anspruch nehmen. Nun werden hier Appelle allein nicht ausreichen. Es muss darum gehen, das Gesundheitssystem so zu verändern, dass die Anreize zum Wohl aller richtig gesetzt werden. Es ist grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden, dass jeder Gesundheitsleistungen nach seinen Wünschen in Anspruch nimmt. Die entscheidende Frage der Sozialen Sicherung lautet dann aber hinsichtlich des Gesundheitssystems: Welches Maß an Gesundheitsleistungen kann und muss durch die Solidarität aller getragen werden und welches Maß an Gesundheitsförderung können und müssen die Menschen selbst tragen?

Diese Frage verlangt nach Beurteilungsparametern. Der Text macht deutlich, inwiefern hier die Prinzipien der Solidarität, der Subsidiarität oder Fragen der Gerechtigkeit eine Rolle spielen. Nimmt man diese Prinzipien ernst, dann wird man angesichts der Ausgestaltung unseres Sozialstaates, der bisher wesentlich unter dem Gesichtspunkt der Verteilung finanzieller Ressourcen gesehen wird, wohl stärker ein Gewicht auf die Eigenverantwortung zu legen haben. Schon 1991 hat Papst Johannes Paul II. in der Enzyklika "Centesimus annus" in Richtung eines überdehnten Wohlfahrtsstaates festgestellt: "Der Wohlfahrtsstaat, der direkt eingreift und die Gesellschaft ihrer Verantwortung beraubt, löst den Verlust an menschlicher Energie und das Aufblähen der Staatsapparate aus, die mehr von bürokratischer Logik als von dem Bemühen beherrscht werden, den Empfängern zu dienen." In diesem Sinn ist die Soziale Marktwirtschaft im Lauf der Jahrzehnte in unserem Land vielfach überlagert worden durch gewisse Entwicklungen, die ihre Grundprinzipien auszuhöhlen drohten: Eigeninitiative, Selbstverantwortung, Leistungsbereitschaft und Mut zum Wettbewerb. Ich selbst habe diese Überlegungen schon öfter angesprochen, z.B. schon im Zusammenhang des Sozialhirtenbriefes oder bei dem Vortrag "Notwendiger Wandel der Sozialen Marktwirtschaft? Reflexionen aus der Sicht der katholischen Kirche" im Rahmen der Ludwig-Erhard-Lectures (veranstaltet von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft "Chancen für alle" am 13. Juni 2002 in Berlin).

Was so grundsätzlich von der Sozialen Marktwirtschaft gesagt werden kann, gilt auch für das Gesundheitssystem: Den Menschen muss wieder mehr Eigenverantwortung zugemutet, aber auch zugetraut werden. Dies gilt für die Notwendigkeit von Prävention, für die Art der Mitwirkung und Mitbestimmung an der Leistungserbringung oder auch für den Zuschnitt des durch die Krankenkassen bezahlten Leistungsspektrums. Gerade hieran entzündet sich viel Streit. Angesichts knapper werdender Ressourcen und insbesondere neuer, durch die medizinische Entwicklung ermöglichter, kostenintensiver Leistungen, stellt sich durchaus auch die Frage nach der Definition des Leistungsumfangs der Gesetzlichen Krankenversicherung. Wir haben hier einige Kriterien formuliert, die verhindern sollen, dass es zu einer bloß faktischen und nicht begründeten Rationierung von Leistungen kommt. Es muss nämlich sicher bleiben: Grundrisiken, wie beispielsweise lebensbedrohliche, chronische oder finanzielle nicht zu bewältigende Risiken müssen weiter abgesichert werden - nicht aber unbedingt die vielen kleinen Erkrankungen.

Es geht uns in dem Text sicher nicht um ein Auflösen der Solidarität, sondern im Gegenteil: Wenn wir wollen, dass die Solidarität aller da weiter einspringen kann, wo sie nötig ist, müssen wir das Gesundheitssystem so reformieren, dass sie da nicht einspringen muss, wo sie nicht nötig ist. Das meint der Titel "Solidarität braucht Eigenverantwortung". Der Text soll eine Ermutigung für alle sein, die Reformen des Gesundheitssystem angehen wollen, Reformen, die die Solidarität durch ein mehr an Eigenverantwortung sichern.

Die Stellungnahme wurde von der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz, der Bischof von Hildesheim, Dr. Josef Homeyer, vorsitzt, und der Kommission für caritative Frage unter dem Vorsitz des Bischofs von Dresden, Joachim Reinelt, vorbereitet. Bischof Reinelt wird Sie nun mit dem Aufbau der Stellungnahme vertraut machen.

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