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Schule als Ort wertbezogener und personal orientierter Erziehung

Vortrag von Karl Kardinal Lehmann, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, beim 3. Bundeskongress Katholische Schule am 28. März 2003 in Bonn

Es gilt das gesprochene Wort!
Auf keine Institution richtet sich die öffentliche Aufmerksamkeit gegenwärtig so stark wie auf die Schule. Bildungs- und Schulpolitik ist seit Jahren ein "Megathema" (Tony Blair). Die Rede von Bundespräsident Roman Herzog vom 5. November 1997 in Berlin ist unvergessen. Die PISA-Studie ist in aller Munde. Der 14. Shell-Jugendbericht lässt aufhorchen. Es dürfte mittlerweile keine gesellschaftliche Gruppe, keine Partei und keinen Verband geben, der sich nicht mit Reformvorschlägen an der öffentlichen Diskussion beteiligt hat. Im Herbst letzten Jahres hat sogar die Unternehmensberatung McKinsey ein "Manifest zur Bildung" vorgelegt. Was aber sagen christlicher Glaube und Kirche dazu? Immerhin sind die beiden Kirchen nach dem Staat die größten Träger von Bildungseinrichtungen in Deutschland. Allein das Katholische Schulwesen umfasst etwa 1150 Schulen aller gängigen Schulformen mit ca. 370 000 Schülerinnen und Schülern. Die Kirche verfügt somit über reiche Erfahrungen mit Schule und Bildung.
I.
Einen deutlichen Akzent in der Bildungsdebatte hat die Deutsche Bischofskonferenz gemeinsam mit der EKD auf ihrem Berliner Bildungskongress "tempi - Bildung im Zeitalter der Beschleunigung" im November 2000 gesetzt. Leo O'Donovan S.J., der Präsident der Georgetown-University in Washington D.C., hat in seinem vielbeachteten Vortrag darauf aufmerksam gemacht, dass die gegenwärtige Bildungsdiskussion funktionalistisch eng geführt wird. Bildung werde oftmals als Zurüstung zum Arbeitsmarkt verstanden und manche Reformvorschläge zielten darauf ab, die Schule möglichst optimal den neuen Bedürfnissen des Beschäftigungssystems anzupassen. Leo O'Donovan hat im Gegenzug ein überzeugendes Plädoyer für jene Bildungsziele und Bildungsinhalte gehalten, die auf den ersten Blick als wirtschaftlich unnütz gelten, aber für das gute Leben unverzichtbar sind, also etwa die "weichen" Fächer wie Kunst, Musik, Literatur und nicht zuletzt auch der Religionsunterricht. Diese Einsichten sind im letzten Jahr auf einer Bundesfachtagung für das katholische Schulwesen konkretisiert worden. Ich habe sie selbst schon vor Jahren formuliert, als ich zur schon zitierten Bildungsrede von Roman Herzog Stellung nahm.
Wie wichtig diese Problemanzeige war, zeigt die gegenwärtige Diskussion um den Ausbau der Ganztagsschulen und der Ganztagsbetreuung. In der Präambel zum Entwurf des Investitionsprogramms "Zukunft Bildung und Betreuung" - also der Rahmenvereinbarung des Bundes mit den Ländern über die Vergabe der finanziellen Mittel bis zum Jahre 2007 - heißt es wörtlich: "Durch eine frühzeitige und individuelle Förderung aller Potenziale in der Schule wird ein entscheidender Beitrag für eine gute Qualifizierung für die zukünftige Erwerbsarbeit geleistet. Dadurch kann der steigende Bedarf an qualifizierten Erwerbspersonen besser gedeckt, zugleich kann das vorhandene Potenzial an gut ausgebildeten Arbeitskräften besser ausgeschöpft werden und es können neue zukunftssichere Arbeitsplätze entstehen." Damit ist sicher Richtiges gesagt. Nur werden hier die Aufgaben der Schule einseitig von den Erfordernissen des Arbeitsmarkes her bestimmt.
Wir müssen uns sicher vor der falschen Antithese hüten: Bildung versus Ausbildung und Leistung. Zur schulischen Bildung gehören auch Forderungen, die zum Vertrautwerden mit der Arbeitswelt gehören, und Tugenden wie Verlässlichkeit, Disziplin und Pünktlichkeit. Aber sie beschränkt sich nicht darauf. So wenig der Mensch sich in bestimmten Weisen und Vollzugsformen von Arbeit erschöpft, kann Bildung gleichsam nur eine nützliche Vorstufe für eine bestimmte Ausbildung sein. Weitsichtige Vertreter der Wirtschaft wissen, dass wir in Zeiten eines beschleunigten technischen und ökonomischen Wandels Menschen brauchen, die ihr Handeln über den Tag hinaus an grundlegenden Werten orientieren. Wenn der Einzelne immer wieder Neues lernen und sich auf unbekannte Situationen einstellen muss, dann braucht er für seine eigene Lebensorientierung, aber auch für sein grundlegendes Berufsethos verlässliche Leitplanken, die nicht ständig wieder ausgewechselt werden müssen. Ethische Grundorientierungen sind gerade in einer solchen Situation unverzichtbar. In diesem Sinne ist es schlechthin unverständlich, warum wir gerade in der beruflichen Bildung einen so hohen Ausfall von Religionsunterricht in Kauf nehmen, wie es tatsächlich in vielen Bundesländern immer noch und immer wieder der Fall ist. Dabei wäre der Ausfall noch größer, wenn die Kirchen nicht auch finanziell versuchen würden, die Lücke zu stopfen.
II.
Für den klassischen europäischen Bildungsbegriff, der freilich gar nicht so alt ist, ist es ganz unnötig, dass man seine Wertorientierung überhaupt betonen muss. Bildung ist so eng mit - wie immer näher zu verstehender - konkreter Humanität verbunden. Das Wahre, Gute und Schöne sind Maßstäbe, die man von Bildung nicht ablösen kann. Bildung und Kultur waren engstens mit einem Menschenbild verbunden, das für lange Zeit die Tugenden der Gerechtigkeit und der Tapferkeit, des Maßes und der Klugheit einschloss, manchmal auch Glaube, Hoffnung und Liebe. Aber auch später zehrte der Begriff beim Bildungsbürgertum stark von diesem Erbe, selbst wenn es verwandelt und ergänzt wurde.
Die Rede von den Werten hat in den letzten Jahrzehnten - gerade auch im Zuge der Grundwerte-Debatten - inflationär zugenommen. Der öffentliche Sprachgebrauch verdeckt jedoch, wie umstritten der Wertbegriff in der Philosophie und Theologie, in den Rechts- und Sozialwissenschaften ist. Viele lehnen diesen Begriff rundweg ab, da er ein nichts sagender Restbegriff einer verblichenen und unkenntlich gewordenen Metaphysik, folglich auch ungenau und wolkig sei. Die Philosophen haben spätestens seit Martin Heidegger, viele Juristen - auch wenn sie sonst nicht mit ihm einverstanden sind - seit Carl Schmitt Schwierigkeiten mit diesem Begriff; im Anschluss daran lehnen vor allem auch viele Theologen besonders evangelischer Herkunft diesen Begriff radikal ab, z.B. E. Jüngel. Allerdings gibt es gerade in der modernen Sozialphilosophie auch ein erneutes Nachdenken über Werte, ihre Entstehung und Vermittlung. Ich denke hier etwa an die Entwürfe von Charles Taylor oder Hans Joas.
Für Bildung und Erziehung ist der Wertbegriff bei allen Vorbehalten unverzichtbar. Denn jeder Fächerkanon, jeder Stunden- und Lehrplan beruht auf Entscheidungen darüber, welche Inhalte und Gegenstände es wert sind, unterrichtet zu werden. Bildungsdiskussionen sind Diskussionen darüber, welches Wissen und welche Verhaltensweisen wir für so wertvoll halten, dass wir sie der nachwachsenden Generation vermitteln wollen. Schüler werden nur dann erfolgreich lernen können, wenn sie davon überzeugt sind oder werden, dass das, was sie lernen sollen, auch tatsächlich wert ist, gelernt zu werden. Die eher durchschnittlichen Ergebnisse, die deutsche Schüler in den von PISA untersuchten Bereichen - Mathematik, Naturwissenschaften und Lesekompetenz - im Durchschnitt erzielt haben, weisen ja nicht nur auf Defizite in der Wissensvermittlung hin, sondern auch darauf, dass vielen Schülern der "Wert" dessen, was sie in diesen Bereichen lernen sollen, nicht recht einleuchtet. Kognitives Lernen und Werteerziehung sind offenkundig nicht voneinander zu trennen.
Wertebezogene Bildung enthält ein unverzichtbares personales Element. Der Einzelne bringt durch seine Teilhabe am Gespräch der Gesellschaft und durch seine persönliche Prägung seine Beziehungen zur Welt überhaupt einmal zur Sprache und zum Bewusstsein,. Personalität, Bewusstseinserhellung und soziale Verantwortung gehören zusammen. Bildung darf nicht nur privat gedacht werden, sondern hat auch eine soziale Verpflichtung. Diese Einsicht ist grundlegend für das Erziehungskonzept der katholischen Schule. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, eigenständige, sozial verantwortungsbewusste und urteilsfähige Persönlichkeiten heranzubilden und ist deshalb einem ganzheitlichen Bildungsverständnis verpflichtet, das neben funktionalen vor allem personale Aspekte umfasst. Bildung erschöpft sich in der katholischen Schule nicht in der Vermittlung von Wissen oder im Erwerb einzelner Qualifikationen und Kompetenzen. Bildung meint vielmehr auch die personale Integration von Kenntnissen, Fähigkeiten und Erfahrungen und das Bewusstsein der eigenen Identität. Darum erstreckt sich Bildung auch auf Geist, Gemüt und Leib. Sie sieht nicht nur auf den Kopf des Menschen, hat immer auch etwas mit "Herzensbildung" zu tun. Darum gehört zu einem umfassenden Bildungsideal neben der intellektuellen Ausbildung eben auch die Förderung des Ethischen, des Kreativen, des Musischen und Emotionalen. Dies verwirklicht sich in besonderer Weise im Religiösen.
Bildung muss auch außerhalb von ihr selbst liegende Ziele zu verwirklichen suchen. Sie hat mit Werten und Zielen zu tun, die keiner weiteren Zwecksetzung unterliegen, in diesem Sinne unbedingt sind. Sie haben Rang und Bedeutung aus sich heraus. Dies gilt im Grunde für alle Maßstäbe, Normen und Ideale. Es gilt im Kern auch für jede Kunst, weil diese letztlich bei allen funktionalen Aspekten aus sich selbst heraus überzeugen muss. Es gilt für alle "Theorie", die nicht von Anfang an schon zweckgebunden und bloß praxisorientiert sein kann. Es gibt eine Suche nach Erkenntnis, die nur deshalb einmal fruchtbar wird, weil sie nicht von vornherein domestiziert ist. Ohne diese unverzweckte, freie Theorie, die wir von den Griechen gelernt haben, gibt es letztlich kein verlässliches Wissen und am Ende auch keine Wissenschaft, die dieses Namens würdig ist. Bildung kommt heute gewiss an gesellschaftlichen Bedürfnissen nicht ganz vorbei, aber sie verliert sich selbst, wenn sie gegenüber den gesellschaftlichen Tendenzen nicht unabhängig bleibt. Deshalb muss jede Erziehung zur Bildung auch Distanz und Freiheit zu allem, was ist, schaffen. Dies geschieht nicht nur im Sinne eines billigen "Hinterfragens" von allem und jedem, sondern im Befragen und Belagern dessen, was zuerst fremd anmutet, sich jedoch oft als überraschende Wahrheit zu erkennen gibt. Eine solche Erkenntnis braucht die Geduld des Suchens und eine hohe Freiheit von Vorurteilen. Sonst entdeckt man nichts Neues. Ich habe oft den Eindruck, dass unser Bildungsbetrieb weit entfernt ist von einer solchen Kultur der Selbstständigkeit und der Verantwortung des Einzelnen. Da gibt es zu viele Etiketten und Schablonen, zu enge Programme und Lehrpläne.
III.
Wer von wertbezogener und personal orientierter Erziehung und Bildung spricht, muss die Fragen beantworten, an welchen Werten sich Erziehung und Bildung orientieren sollen und wie diese Werte vermittelt werden können. Auch wenn man nicht in das kulturkritische Lamento über den Verlust der Tugend oder den Verfall der Werte einstimmt, so muss man doch nüchtern feststellen, dass Werteerziehung in einer pluralistischen Gesellschaft vor neuen Herausforderungen steht. Das Nebeneinander gegensätzlicher Wertüberzeugungen erschwert die Konsensbildung über pädagogische Leitideen in der Schule und fördert eine hochgradige Individualisierung, die gewiss viele Freiheiten ermöglicht, aber faktisch auch die Solidarität in unserer Gesellschaft mindert. Im Streit der Wertüberzeugungen sind dann viele geneigt, sich auf einen Minimalstandard zurückzuziehen, der jene Werte umfasst, die vor allem für das wirtschaftliche Wohlergehen unserer Gesellschaft notwendig sind. Es scheint jedenfalls einen Zusammenhang zwischen der Ökonomisierung vieler Lebensbereiche einerseits und der Pluralisierung und Individualisierung von Wertüberzeugungen anderseits zu geben.
Einigkeit dürfte unter Pädagogen darüber herrschen, dass Werte nicht rein kognitiv vermittelt werden können wie etwa mathematische Formeln. Realistischerweise wird man auch davon ausgehen müssen, dass Wertevermittlung nur bedingt intentional steuerbar ist. Werte werden vielmehr über Erfahrungen vermittelt. Wertbindung entsteht, wenn wir von Werten "ergriffen" werden. Die grundlegenden wertkonstitutiven Erfahrungen werden zweifelsohne in der Familie gemacht. Hier erfahren Kinder noch vor jeder ausdrücklichen Thematisierung von Werten, woran sich das tägliche Miteinander orientiert, was für die Eltern und Geschwister wertvoll und was eher wertlos ist. Hier lernen sie elementare soziale Umgangsformen, Rücksichtnahme auf andere und Respekt vor ihnen, den fairen Umgang mit unterschiedlichen Interessen und die Lösung von Konflikten. In der Familie lernen Kinder auch, welchen Wert Eltern und Geschwister Schule und Bildung beimessen. Die Wertentscheidungen der Familie bestimmen dann meist auch ihr Verhalten in der Schule und zur Schule. Dasselbe ließe sich auch für die Einstellung zu Kirche und Glaube sagen.
Die Erziehung in der Familie ist so entscheidend, dass sie durch andere Institutionen nicht oder nur unzureichend ersetzt werden kann. Diese Einsicht wird in der gegenwärtigen Diskussion um den Ausbau der Ganztagsschulen bzw. der Ganztagsbetreuung zu wenig berücksichtigt. Ganztagsschulen können ein Beitrag zur besseren Vereinbarung von Kindererziehung und Berufstätigkeit sein. Aber auch sie bleiben auf die Erziehungstätigkeit der Eltern oder der allein erziehenden Mütter und Väter angewiesen. Der Ausbau von Ganztagsschulen entbindet deshalb nicht von der Verpflichtung, Familien bei der Kindererziehung zu unterstützen. Hier sind nicht nur Staat und Schule in der Pflicht, sondern auch Betriebe und Unternehmen. Die Kirche leistet gerade in diesem Feld bereits einen großen Beitrag.
Werteerziehung in der Schule heißt, Schule als einen Ort zu verstehen, an dem wertkonstitutive Erfahrungen gemacht und reflektiert werden können. Wertevermittlung geschieht - auch in der Schule - personal. Beispiele, Vorbilder und ihr reales Verhalten zählen mehr als verbale Bekundungen und Informationen. In der Begegnung mit Menschen und ihrem Handeln werden Werte und Wertüberzeugungen konkret erfahrbar. Ohne personale Bindung können Werte keine motivierende Kraft entfalten. Werte bedürfen der Repräsentation; sie erfordern, um es in kirchlicher Sprache auszudrücken, das Zeugnis des Lebens.
Sodann geschieht Wertevermittlung durch den institutionellen Charakter der Bildungseinrichtung selbst. Dieser Aspekt wird in der deutschen Diskussion oft sträflich vernachlässigt. Dabei sagt etwa die Gestaltung des Schulgebäudes und der Schulräume weit mehr über die Werte, die an einer Schule kommuniziert werden, als jeder Lehrplan. Schule ist auch eine Lebensform. Diese Einsicht gehört zu den Wesenselementen der Katholischen Schule. "Schule als Erziehungsgemeinschaft", wie der Titel des Bundeskongresses lautet, legt den Akzent auf den sozialen und kommunitären Charakter von Schule, auf das Miteinander aller am Schulleben Beteiligten, Lehrern, Schülern, Eltern und Schulträger. Unter dem Aspekt der Wertevermittlung ist die Erziehungsgemeinschaft unverzichtbar. Denn jede Wertekommunikation braucht eine konkrete Gemeinschaft, die Werte bezeugt und lebt.
Zur schulischen Wertevermittlung gehört schließlich die Artikulation und Reflexion von Werten, Wertentscheidungen und Wertkonflikten. Schule muss Freiräume eröffnen, an denen Schüler Erfahrungen, die sie innerhalb und außerhalb von Schule gemacht haben, thematisieren und reflektieren können. Ein solcher Freiraum ist sicher der schulische Religionsunterricht. Die Beschäftigung mit normativen Fragen darf aber nicht einfach an ein Fach delegiert werden. Auch in den anderen wissensvermittelnden Fächer wie Deutsch, Geschichte oder Biologie stellen sich normative Fragen, denen der Deutsch-, Geschichts- oder Biologielehrer nicht einfach ausweichen darf.
So wichtig und unverzichtbar der Diskurs für die Bildung z.B. sittlicher Urteile ist, Wertevermittlung erschöpft sich nicht in bloßer rationaler Argumentation. Darüber ist ja viel gearbeitet worden, wenn ich nur an die Bildung des Gewissens und die verschiedenen Lebensalter denke. Wenn Wertevermittlung vor allem auch z.B. über Erfahrung geschieht, dann hat sie u.a. einen wesentlich narrativen Zug. Erfahrungen werden in Erzählungen und Geschichten kommuniziert. Das gilt übrigens auch für die Kirche. Sie versteht sich auch als Erzählgemeinschaft. Nicht zufällig hat ihr zentraler und identitätsstiftender Vollzug, die Feier der Eucharistie, auch eine narrative Struktur. Erzählung und Gemeinschaft gehören zusammen. Gemeinschaften definieren sich auch über gemeinsame Geschichten. Damit stellt sich natürlich die Frage, welche "Geschichten" für uns bedeutsam und orientierend sind. In der Katholischen Schule sind das natürlich zunächst die Geschichten der Bibel, allen voran die Geschichte von Jesus Christus, sodann aber auch die Lebensgeschichten großer Christen, der kanonisierten und (noch) nicht kanonisierten Heiligen. An ihnen wird deutlich, dass das christliche Ethos keine ferne Utopie ist, sondern im Hier und Jetzt entschieden und glaubwürdig gelebt werden kann.
Eine erfolgreiche Wertevermittlung wird sich immer wieder die Frage nach der zeitgemäßen Artikulation christlicher Werte wie Nächstenliebe, Gerechtigkeit, Uneigennützigkeit, Verlässlichkeit oder Treue stellen müssen. Sie sind weniger veraltet, als wir manchmal meinen. Sie bedürfen jedoch einer Vermittlung, die den veränderten Lebensbedingungen und Erfahrungen heutiger Schüler gerecht wird. Eine realistische Wertekommunikation wird auch Erfahrungen des Scheiterns, des Versagens und des Sichversündigens nicht ausblenden dürfen. Zum christlichen Ethos gehört notwendig die Einsicht, dass wir in unserem Leben immer hinter dem zurückbleiben, zu dem wir uns bekennen. Dies gilt für das individuelle und das gesellschaftliche Leben. Deshalb werden auch viele klassische ethische Themen, die lange Zeit für überholt erschienen, neu entdeckt, wie z.B. die Rehabilitation der Tugenden zeigen kann. Man denke aber auch an das Subsidiaritätsprinzip.
IV.
Das Nachdenken über Wertevermittlung in der Schule führt zu der Erkenntnis, dass diese nur dann erfolgreich sein wird, wenn Schule sich als Lebensform und als Gemeinschaft versteht. Diese Erkenntnis prägt das Selbstverständnis der Katholischen Schulen. Unter dem Begriff der "Erziehungsgemeinschaft" (communauté éducative) wird an ihnen seit langem praktiziert, was neuerdings und anderenorts auch unter dem Begriff "Schulkultur" firmiert. Es geht dabei um die - leider nicht selbstverständliche - Einsicht, dass Schule kein mehr oder minder zufälliges Zusammentreffen von unterschiedlichen Klassen, Fachkonferenzen, inner- oder außerschulischen Aktivitäten ist, die von der Schulleitung unter administrativen und funktionalen Gesichtspunkten organisiert werden. Schule ist vielmehr eine Lebensform, in der Leben und Lernen, das Handeln der beteiligten Personen und Gruppen sich an gemeinsam geteilten Werten und wegweisenden Geschichten orientieren. Diese Werte prägen - ob man sich dessen bewusst ist oder nicht - das alltägliche Miteinander ebenso wie die Gestaltung des Schultages und des Schuljahres, des Schulgebäudes und des Schulgeländes und, im Rahmen der staatlichen Vorgaben, auch die Art und Weise zu lernen und zu lehren. Katholische Schulen gelten meist zu Recht als besonders leistungsstark. Dies liegt nicht nur an der Effektivität des Unterrichts, sondern auch daran, dass hier Schülern der Wert dessen, was sie lernen, und der Zweck, wozu sie es lernen sollen, verständlicher gemacht wird. Es ist gerade die Verbindung von Wissensvermittlung und Wertekommunikation, die auch das Profil katholischer Schulen prägt. Dass dieses Profil viele Eltern in unserem Land überzeugt, belegen die Anmeldezahlen, die seit Jahren die Kapazitäten der Katholischen Schulen deutlich übersteigen und in diesem Schuljahr einen neuen Höchststand erreicht haben.
Zum Konzept der Erziehungsgemeinschaft gehört, dass Lehrer, Eltern und Schüler jeweils zu ihrem Teil aber doch gemeinsam für ihre Schule verantwortlich sind. Dabei kommt der Mitarbeit und Mitbestimmung der Eltern eine besondere Bedeutung zu. Schule und Elternhaus sollen im Sinne einer Erziehungspartnerschaft zusammenwirken, sich gegenseitig unterstützen und ergänzen. Wie wichtig das Miteinander von Schule und Eltern ist, zeigt sich immer dann, wenn Jugendliche schwierige Entwicklungsphasen durchleben oder schwere Herausforderungen wie etwa den Tod eines geliebten Menschen, eine Krankheit oder die Trennung der Eltern zu bewältigen haben. In diesen Situationen hat sich die Erziehungsgemeinschaft der Schule zu bewähren.
Zum Konzept der Erziehungsgemeinschaft gehört schließlich auch die Erziehung der Schüler zu Mitbestimmung und Mitverantwortung. Jeder Einzelne soll sich als Glied der Gemeinschaft verstehen, die von Achtung voreinander, Verantwortung füreinander und gegenseitiger Hilfsbereitschaft geprägt ist. Die Katholische Schule bildet so eine eigene Schulkultur aus, die immer auch ein Stück Gegenkultur zu kurzatmigen Trends und schnell wechselnden Moden bildet. Sie fördert die Eigeninitiative und Eigenverantwortung der Schüler über den Unterricht hinaus und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur politischen Bildung: sie wird zur Lernstätte der Demokratie.
Die gemeinsame Orientierung am Evangelium und an der katholischen Glaubenstradition erleichtert die Bildung einer Erziehungsgemeinschaft. Der konfessionelle Charakter der Katholischen Schulen darf allerdings nicht mit geistiger Enge und Abgrenzung verwechselt werden. Das christliche Ethos ist kein Gruppenethos für einen beschränkten Adressatenkreis. Das Kennzeichen einer christlichen Ethik ist nicht ihre Exklusivität, sondern ihre Kommunikabilität. Zum Katholischen gehört immer eine grundlegende Offenheit für Andere, die Bereitschaft zu Begegnung und Dialog. In einer pluralistischen Gesellschaft kann die Vermittlung der eigenen Werte gar nicht ohne Bezug auf die Werte und Werterfahrungen der anderen gelingen. In der Begegnung mit den anderen teilen wir unsere Werte mit und werden zur Modifizierung und zur Erneuerung des Eigenen angeregt.
Diese grundlegende Offenheit des Katholischen, sein wahrhaft universaler Zug sind wohl auch der Grund dafür, dass von Katholischen Schulen immer wieder wichtige Impulse für die Reform auch der staatlichen Schulen ausgehen. Vieles, was in den letzten Jahren im staatlichen Schulwesen unter den Begriffen "Schulkultur", "Schulprogramm" und "Selbstständige Schule" diskutiert wurde, greift - ob bewusst oder unbewusst - Elemente des katholischen Verständnisses von Schule als Erziehungsgemeinschaft auf.
V.
Wie Wertevermittlung an Katholischen Schulen konkret geschehen kann, zeigt das konkrete Projekt "Compassion", das von einer Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz konzipiert, an Katholischen Schulen in Baden-Württemberg erprobt und wissenschaftlich begleitet wurde. Mittlerweile gehört es an vielen auch staatlichen Schulen zum festen Bestandteil der Schullaufbahn.
Während des Schuljahres verrichten Schüler zwei oder drei Wochen lang Dienste in einer sozialen Einrichtung wie z.B. Altenheimen, Krankenhäusern, Hospizen, Behinderten- oder Obdachloseneinrichtungen. Wichtig ist, dass die Praktika mit dem Schulunterricht thematisch verbunden werden. So werden die Schüler auf ihre Tätigkeiten in den sozialen Einrichtungen nicht nur vorbereitet, sondern haben vor allem auch die Möglichkeit, in der Nachbereitung ihre oft einschneidenden Erfahrungen in Grenzbereichen menschlicher Existenz zu reflektieren und in ihren persönlichen Lebensentwurf zu integrieren. Ziel des Projekts ist es, in der Begegnung mit Menschen, die aus welchen Gründen auch immer auf die Hilfe anderer angewiesen sind, das Empfinden von Sozialverpflichtung und die Bereitschaft zur Solidarität reifen und wachsen zu lassen. Es geht um die Fähigkeit, die Welt mit den Augen anderer sehen zu lernen, um Empathie als der Grundlage für Respekt und Wohlwollen. Diese Werte gewinnen in einer zunehmend individualisierten Gesellschaft eine immer größere Bedeutung, weil sie der Entwicklung von Ressentiment, Abwehr und Hass vor allem gegen schwächere Menschen entgegensteuern. Es ist natürlich nicht zu übersehen, wie sehr in diesem Projekt die großen klassischen Themen des Mitleids und des Erbarmens, der Solidarität und der Versöhnung aufgenommen worden sind.
Mit dem Projekt "Compassion" ermöglichen Katholische Schulen ihren Schülern wertkonstitutive Erfahrungen außerhalb ihres gewohnten schulischen und familiären Lebenswelt. Gleichzeitig bietet die Schule ihnen aber auch den Raum, diese neuen Erfahrungen in den verschieden Unterrichtsfächern unter unterschiedlichen Aspekten zu thematisieren und zu reflektieren. Die Durchführung eines solchen Projektes erfordert ein hohes Maß an Organisation und Engagement von Lehrern, Schülern und Eltern. Ein solches Projekt setzt die Zusammenarbeit von Lehrern unterschiedlicher Fachrichtungen, von Schülern und Lehrern und nicht zuletzt auch die Zustimmung und Unterstützung der Eltern voraus. Es kann nur erfolgreich durchgeführt werden, wenn es einen Grundkonsens aller Beteiligten darüber gibt, dass dieses Projekt wertvoll ist.
Das Beispiel "Compassion" zeigt die grundlegende Bedeutung des katholischen Konzepts der Erziehungsgemeinschaft. Die Tatsache, dass das Projekt auch von staatlichen Schulen übernommen wird und sogar auf europäischer Ebene Beachtung und Anerkennung findet, belegt, dass Katholische Schulen kein Sonderethos vermitteln, sondern wichtige schulpädagogische Reformimpulse auch für das staatliche Schulwesen geben.
Pädagogische Reformideen - "Compassion" ist hier nur ein Beispiel unter vielen - gedeihen besonders gut an Freien Schulen, die gegenüber den staatlichen Schulen größere organisatorische und pädagogische Gestaltungsmöglichkeiten haben. Katholische Schulen verstehen sich auch als Experimentierfeld, auf dem Neues erprobt werden kann, das, wenn es erfolgreich ist, von anderen Schulen gerne übernommen wird. Deshalb müssen Katholische Schulen ihr Schulleben aber auch selbstständig gestalten können und dürfen ihnen weder von staatlicher Seite noch vonseiten der kirchlichen Träger unnötige Auflagen gemacht werden. Es muss auch einmal in Kauf genommen werden, dass nicht jede Reformidee sich als realisierbar erweist und nicht jedes Projekt auf Anhieb ein Erfolg wird. Langfristig werden Staat und kirchliche Träger für das Vertrauen, das sie in die Eigenverantwortung einer Schulgemeinschaft gesetzt haben, mit einem lebendigen und innovationsfähigen Schulwesen belohnt.
Diese nun mehrfach beschriebene Autonomie der Schule hat auch materielle Voraussetzungen. In Zeiten knapper öffentlicher Kassen sind manche Bildungspolitiker versucht, die Refinanzierung der Freien Schulen zu kürzen oder deren Berechnungsgrundlagen zu verändern. Sparmaßnahmen dieser Art haben kurzfristig Erfolg. Langfristig wirken sie sich jedoch auch für die Haushalte der Bundesländer höchst negativ aus. Denn Katholische Schulen sind durchweg preiswerter als staatliche Schulen, weil die kirchlichen Schulträger einen nicht unerheblichen Teil der Kosten übernehmen. An einer Verringerung der Zahl Freier Schulen kann einem weitsichtigen Finanzminister also kaum gelegen sein.
Schwerer dürften noch die pädagogischen Folgen wiegen. Der Trägerpluralismus, den das Grundgesetz ausdrücklich vorsieht (vgl. Art. 7 Abs. 4 GG), garantiert ein vielfältiges Bildungsangebot, das den unterschiedlichen Bedürfnissen und Interessen von Eltern, Schülern und Lehrern sicher besser gerecht wird als eine Einheitsschule. Ein plurales Schulwesen ist Innovationen besonders aufgeschlossen. Dies sollte den Bundesländern auch Geld wert sein. Gerade nach PISA brauchen wir neue Ideen und Konzepte.
VI.
Katholische Schulen sind kirchliche Schulen. Damit ist die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Schule gestellt. Diese Frage kann man sicher nicht einfach nur juristisch beantworten, etwa mit dem Hinweis auf die kirchliche Trägerschaft und den sich daraus ergebenden Rechten und Pflichten. Das Verhältnis von Kirche und Schule ist in der Verbindung von Pädagogik und Theologie zu bestimmen. Die Kirche ist vor allem der Ort der Gottesbegegnung. Damit soll nicht bestritten werden, dass wir auch außerhalb der Kirche Gott begegnen können. Aber die Kirche ist der Ort, an dem die Begegnung mit Gott thematisiert wird, mehr noch: sie ist der Ort des unaufhörlichen Gespräches mit Gott. In der langen Geschichte Gottes mit den Menschen - von der Schöpfung über die Erwählung Abrahams, den Bund mit dem Volk Israel bis zum Christusereignis und zur Gründung der Kirche - hat sich eine Kultur dieses Gesprächs herausgebildet, die Verhaltensweisen und Formen der Kommunikation umfasst. Das sind vor allem Wort und Sakrament, in denen wir mit Christus und durch Christus Gott begegnen. Aber auch die Schrift, der Schatz der Gebete, das Nachdenken über Gott und seine Schöpfung und nicht zuletzt auch der Dienst an unseren Mitmenschen können zu Medien der Gottesbegegnung werden. Für einen gläubigen Christen ist das Gespräch mit Gott nicht ein Gespräch unter vielen anderen, die mehr oder minder beziehungslos nebeneinander hergeführt werden. Die Beziehung zu Gott ist vielmehr jene Beziehung, in die wir unserer ganzes Leben mit seinen Freuden und Ängsten, seinen Erfolgen und Misserfolgen, den Hoffnungen und Zweifeln einbringen. Dieses Gespräch mit Gott ist für den Christen schlechterdings identitätsstiftend. Umkehr, Erneuerung, Befähigung zur Nächstenliebe haben in diesem Gespräch ihren Ursprung.
Das Gespräch mit Gott ist sicher eine sehr persönliche Angelegenheit. Aber wir führen dieses Gespräch nicht allein, sondern in Gemeinschaft mit vielen Menschen unterschiedlicher sozialer, kultureller und geografischer Herkunft. Wir brauchen diese kirchliche Gemeinschaft, die auch jene umfasst, "die uns im Glauben vorangegangen sind", um nicht selbst gemachten Gottesvorstellungen aufzusitzen. Der Dialog der Christen untereinander ist deshalb ein unverzichtbarer Teil des Gespräches mit Gott. Die Gemeinschaft mit Gott und untereinander ist das Wesen der Kirche.
Wenn wir Kirche primär als Ort des Gespräches mit Gott verstehen, dann ist eine kirchliche Schule eine Schule, die bewusst an diesem Gespräch mit Gott teilnimmt, die Bildung und Erziehung in das Gespräch mit Gott einbezieht und so selbst zum Ort der Gottesbegegnung wird. Im Gespräch mit Gott finden eine kirchliche Schule und die sie tragende Erziehungsgemeinschaft ihre Identität. Diese kirchliche Identität konkretisiert sich zunächst im alltäglichen Miteinander, vor allem im Respekt vor der unverlierbaren Würde, die jedem Einzelnen als Ebenbild Gottes unabhängig von jeder Leistung zukommt.
Sie konkretisiert sich sodann in dem, was die Bildungskongregation 1977 die "Synthese von Glaube und Kultur" nannte, also in der Verbindung von Wissenserwerb, christlicher Wertevermittlung und Glaubenserfahrung. Dabei legt die Bildungskongregation großen Wert darauf, dass Bildung als Erziehung zur Wahrheitssuche zu verstehen ist. Dieser Aspekt ist zweifellos von großer Aktualität. Denn das Ringen um die Erkenntnis verbindlicher Wahrheit weicht zunehmend einer Haltung der Beliebigkeit, in der "alles auf Meinung reduziert" wird und jeder mit sich selbst ausmachen muss, was für ihn gelten soll. Die Subjektivierung von Wahrheitsansprüchen ist dem Bildungsprozess jedoch ebenso abträglich wie der fundamentalistische Anspruch des Wahrheitsbesitzes. Erziehung und Bildung in das Gespräch mit Gott einzubeziehen, heißt auch, den Menschen als ein Wesen zu betrachten, das zur Wahrheitserkenntnis fähig ist - "freilich in dem Bewusstsein, dass jede erreichte Wahrheit immer nur eine Etappe auf dem Weg zu jener vollen Wahrheit ist, die in der letzten Offenbarung Gottes enthüllt werden wird".
Die Identität kirchlicher Schulen konkretisiert sich schließlich darin, dass sie dem Einzelnen - nicht nur den Schülern, sondern auch den Lehrern und, soweit möglich, den Eltern und Familien - helfen, "ein bewusster Gesprächspartner Gottes zu werden". Ob und wie der einzelne Gott begegnet und in das Gespräch mit ihm eintritt, entzieht sich freilich unserem Entschluss. Der Glaube ist pädagogisch nicht machbar, sondern das Wirken Gottes und der Freiheit des Menschen. Deshalb ist jede Form religiösen Zwangs auch eine Verletzung der Ehre Gottes und der Würde des Menschen. Wohl aber ist die Kultur des Gespräches mit Gott lehrbar und lernbar, ja sie muss sogar - wie jede andere Kultur auch - gelernt und eingeübt werden. Das ist sicher in erster Linie Aufgabe des Religionsunterrichts. In einer Katholischen Schule aber gehören dazu auch spirituelle Angebote unterschiedlicher Art wie Exerzitien, religiöse Wochen, Andachten, Schulgottesdienst und vieles mehr. Eine lebendige Schulpastoral(33) ist wesentlicher Bestandteil der Schulkultur.
Die religiöse Erziehung in der Schule kann heute nicht mehr bruchlos an religiöse Erfahrungen und religiöses Wissen anknüpfen, das in der Familie oder in der Gemeinde erworben wurde. Eine wachsende Zahl von Schülern auch an Katholischen Schulen bringt kaum Erfahrungen mit praktiziertem Glauben in den Unterricht mit. Viele Eltern verzichten auf eine religiöse Erziehung, nicht weil ihnen der Glaube nichts bedeutet, sondern weil sie selbst in Glaubensfragen unsicher und zunehmend auch religiös sprachlos sind. Über den eigenen Glauben zu reden, fällt vielen heute schwer. Die religiöse Erziehung wird deshalb gerne an die entsprechenden "Fachleute", die Priester und Laienmitarbeiter in der Gemeinde und natürlich an die Religionslehrerinnen und Religionslehrer in der Schule delegiert. Diese Feststellung gilt erst recht für jene Familien in den neuen Bundesländern, die schon seit mehreren Generationen konfessionslos sind, ihre Kinder jedoch bewusst auf eine kirchliche Schule schicken. Manche dieser Eltern hegen dabei auch den Wunsch, über die religiöse Erziehung ihrer Kinder in der Schule auch selbst Kontakt mit dem christlichen Glauben aufnehmen zu können. Ähnlich ist es mit dem Kindergarten.
Für Kinder aus Elternhäusern ohne religiöse Praxis aber ist es wichtig, die christliche Botschaft nicht nur als Unterrichtsgegenstand, sondern auch als einen Lebensvollzug kennen zu lernen. Hier haben Katholische Schulen eine große Chance und Aufgabe, nämlich Kinder und Jugendliche nicht nur mit der christlichen Lehre bekannt zu machen, sondern sie auch in die Kultur des Gespräches mit Gott einzuführen. Dazu gehört das angemessene Verhalten im Kirchenraum, der Vollzug elementarer liturgischer Handlungen, die gemeinsame Feier des Kirchenjahres, die Kenntnis der Gebetstraditionen der Kirche, aber auch die Hinführung zu einem selbstlosen Einsatz für andere wie in dem bereits genannten Projekt "Compassion". Katholische Schulen werden so zu einem Ort, an dem Kinder und Jugendliche - und oftmals auch deren Eltern - christlichem Leben und Kirche begegnen. Sie werden, wie es in Zeit zur Aussaat heißt, zu "Biotopen gelebter Christlichkeit", zu "Räumen der Einübung, der Erprobung und der Bewährung des christlichen Glaubensweges".
Katholische Schulen sind weit mehr als eine kirchliche Dienstleistung für die Gesellschaft. Die Distanz zwischen Kirche und Gesellschaft wächst nicht nur in unserem Land. Die Zeiten, in denen Kirche und Gesellschaft in einer engeren Symbiose lebten, scheinen jedenfalls vorbei zu sein. Für uns Christen stellt sich damit die Frage, wie wir in der pluralistischen Gesellschaft präsent sein können. Ein wichtiger Brückenpfeiler der Kirche in der Gesellschaft sind die Katholischen Schulen. Hier können wir zeigen, dass der christliche Glaube eine lebensprägende Kraft ist und dass er sich in der Auseinandersetzung mit den Erfahrungen und Fragen der Kinder und Jugendlichen bewährt. Katholische Schulen können dadurch zu Orten des Dialogs von Kirche und Gesellschaft werden. Gerade in den neuen Bundesländern sind Katholische Schulen oft ein Kristallisationspunkt kirchlichen Lebens und werden als sichtbare Präsenz von Kirche in einem kirchenfernen Umfeld wahrgenommen und geschätzt. Dieser Dialog mit der Gesellschaft, zu dem uns das Zweite Vatikanum nachdrücklich aufgefordert hat, braucht ein Mindestmaß an rechtlichen und institutionellen Bedingungen. Ohne feste Orte kann er dauerhaft nicht geführt werden und erschöpft sich schnell in punktuellen Aktionen ohne Langzeitwirkung. Die Katholischen Schulen sind - ebenso wie der kirchlich mitverantwortete Religionsunterricht und die Theologischen Hochschulen - wichtige Orte dieses Dialogs, von dem langfristig sowohl die Kirche als auch die Gesellschaft profitieren werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich weiß, dass das, was ich in dieser Skizze dargestellt und gefordert habe, an vielen Orten und in vielen Schulen Tag für Tag getan oder jedenfalls versucht wird. Deshalb möchte ich gerne die Gelegenheit ergreifen und persönlich, aber auch im Namen der deutschen Bischöfe den Leitern und den Leiterinnen, den Lehrern und den Lehrerinnen unserer kirchlichen Schulen für dieses Zeugnis herzlich zu danken und ihnen allen sowie den Lehrenden und Lernenden zu Hause Gottes reichen Segen wünschen.
Anmerkungen
1 In: N. Killius/ J. Kluge/ L. Reisch (Hg.), Die Zukunft der Bildung, Frankfurt/M. 2002 (= edition suhrkamp 2289), 171 - 225; sowie J. Kluge, Manifest zur Bildung. Vortrag auf dem Kongress McKinsey bildet am 6. September 2002 in Berlin (). 2 Bildung im Zeitalter der Beschleunigung, in: Stimmen der Zeit, Heft 4/ 2001, 219 - 234. 3 Vgl. Vom Nutzen des Übernützlichen: Musische Fächer, in: engagement. Zeitschrift für Erziehung und Schule 3/2002. 4 Vgl. Was ist wertbezogene Bildung, in: M. Rutz (Hg.), Aufbruch in die Bildungspolitik. Roman Herzogs Rede und 25 Antworten, München 1997, 139-147. 5 Entwurf der Verwaltungsvereinbarung: Investitionsprogramm Zukunft "Bildung und Betreuung" 2003 - 2007, Stand: 10.02.2003, S. 2. 6 Vgl. ebd. und K. Lehmann, Mut zum Umdenken, Freiburg 2002, 90 ff. 7 Dazu K. Lehmann, Art. Grundwerte, in: Staatslexikon, 7. Auflage, II. Band, Freiburg 1986, 1131-1137, und neuerdings: Säkularer Staat: Woher kommen das Ethos und die Grundwerte? Zur Interpretation einer These von Ernst-Wolfgang Böckenförde, in: "Um der Freiheit willen ...". Kirche und Staat im 21. Jahrhundert. Festschrift für B. Reichert, hrsg. von S. Schmidt und M. Wedell, Freiburg 2003, 24-30. 8 Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt/ M. 1994 (engl. Originalausgabe Cambridge/ Mass. 1989). 9 Die Entstehung der Werte, Frankfurt/ M. 1997. 10 Vgl. Kongregation für das katholische Bildungswesen, Die katholische Schule (1977), Nr. 56: Die Katholische Schule "vermittelt daher das Bildungsgut nicht als Mittel zu Macht und Herrschaft, sondern sie will damit den Schülern zu verständnisvollen Umgang mit den Menschen und zur aufmerksamen Beobachtung der Ereignisse und Dinge befähigen. Sie sieht das Wissen nicht als Mittel zur Selbstbehauptung oder -bereicherung an, sondern als eine Verpflichtung, den anderen verantwortungsbewusst zu dienen.2" 11 Vgl. ebd., Nr. 31. 12 Vgl. K. Lehmann, Die Bedeutung der Theorie für Forschung und Lehre, in: Wissenschaft statt Wissensvermittlung, hrsg. von Martin Bullinger, Wolfgang Jäger, Joseph Hurt, Eggingen 1999, 25-35. 13 Vgl. die Konzilsdeklaration über die christliche Erziehung Gravissimum educationis (1965), Nr. 3: "So ist die Familie die erste Schule der sozialen Tugenden, denen kein gesellschaftliches Gebilde entraten kann." 14 Vgl. im Rahmen dieses Themas nur K. Lehmann, "Erzählt euren Kindern davon ...". Von der Mitteilung des Glaubens im Lebensraum Familie, Österliche Bußzeit 1990, Mainz 1990 (Lit.); Die Gemeinschaft von Mann und Frau in Liebe und Treue als Quelle des Lebens. Brief an die Gemeinden über die Zusammengehörigkeit von Ehe und Familie, Österliche Bußzeit 2003, Mainz 2003 (Lit.). 15 Vgl. ebd.: "Ihr Erziehungswirken (der Eltern) ist so entscheidend, dass es dort, wo es fehlt, kaum zu ersetzen ist." 16  Vgl. Kongregation für das Katholische Bildungswesen, Der katholischer Laie - Zeuge des Glaubens in der Schule (1982), Nr. 32 und 33. Vgl. auch K. Lehmann. 17 Vgl. die in Anm. 7 genannte Literatur und die dort gegebenen weiteren Hinweise. Hier wäre besonders der Beitrag des vor allem amerikanischen Kommunitarismus näher heranzuziehen. 18 Vgl. K. Lehmann, Art. Erfahrung, in: Sacramentum mundi, Band I, Freiburg 1967, 1117-1123. 19 Vgl. dazu K. Lehmann, Glauben bezeugen, Gesellschaft gestalten, Freiburg 1993, 295-307, 531-546 u.ö. 20 Dazu bes. A. MacIntyre, Der Verlust der Tugend, Frankfurt 1987; D. Mieth (Hg.), Die neuen Tugenden, Düsseldorf 1984; U. Wickert, Das Buch der Tugenden, Hamburg 1995. 21 Bei der zahlreichen Literatur vgl. A. Baumgartner, Subsidiarität, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Auflage, Band 9, Freiburg 2000, 1076-1077 (Lit.). 22 Vgl. als erste Hinführung zur Demokratie als Lebensform K. Lehmann, Zur dogmatischen Legitimierung einer Demokratisierung in der Kirche, in: Concilium 7 (1971), 171-181 (mit zahlreichen Übersetzungen). 23 Vgl. dazu Kirche und Ökumene im Religionsunterricht. Zum Sinn des Konfessionalitätsprinzips aus katholischer Sicht, in: Regensburger RU-Notizen, 16 (1997); Heft 1, 5-11. 24 Dazu K. Lehmann, Die Herausforderung des Katholischen, in: Typisch Evangelisch?, hrsg. von L. Siegerle-Wenschkewitz, Frankfurt 1998, 43-58; Glaubensgemeinschaft und Bekenntnis, in: Religionsunterricht heute, Mainz 1999, Heft 3-4, 40-45. 25 Vgl. K. Lehmann, Werte-Erziehung in der multikulturellen Gesellschaft. Referat bei der Tagung "Schulentwicklung - Religion - Religionsunterricht" am 23. März 2001 im Tagungszentrum Stuttgart-Hohenheim, teilweise veröffentlicht in: IRP, Mitteilungen 4, Freiburg 2001, 4-9. 26 Vgl. L. Kuld/ St. Gönnheimer: Compassion - soziales Lernen und Handeln an Schulen, Stuttgart 2000; Compassion - Weltprogramm des Christentums. Soziale Verantwortung lernen, hg. v. J. B. Metz/ L. Kuld/ A. Weisbrod, Freiburg 2000; Compassion - Soziales Lernen an Schulen, hg. v. Kuld/ Gönnheimer, Donauwörth 2003. 27 Vgl. dazu auch die Enzyklika Johannes Paul II. "Dives in misericorida" und meinen Kommentar, in: Der bedrohte Mensch und die Kraft des Erbarmens. Die Enzyklika über das Erbarmen Gottes Papst Johannes Pauls II. Freiburg i. Br. 1981. 89-118. 28 Vgl. Die katholische Schule, Nr. 38 - 43. 29 Vgl. die schon genannten Arbeiten zur Grundwerte-Problematik, bes. auch: "Die Zeugniskraft des christlichen Glaubens im gesellschaftlichen Ringen um einen Wertekonsens", in: Um der Menschen willen. Festschrift für Bischof L. Nowak, hrsg. von H. Keul und W. Kraning, Leipzig 1999, 214-227.30  Vgl. ebd., Nr. 41. 31 Vgl. Enzyklika Fides et ratio (=Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 135), hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1998, Nr. 5. 32 Ebd., Nr. 2. 33 Vgl. als erste Information J.H. Schneider, Schulpastoral, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Auflage, Band 9, Freiburg 2000, 298 (Lit.). 34 Die deutschen Bischöfe, Zeit zur Aussaat. Missionarisch Kirche sein (= Die deutschen Bischöfe 68), hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2000, S. 25. 35 Vgl. dazu K. Lehmann, Mit dem Pluralismus leben, in: Renovatio 52 (1996), Heft 1, 1-10 (= gekürztes Eröffnungsreferat zur Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz 1995 "Die Kirche in der pluralistischen Gesellschaft"). 36 Vgl. Gravissimum educationis, Nr. 8.

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