| Pressemeldung

Rede von Dr. Antje Vollmer, MdB Vizepäsidentin des Deutschen Bundestages zur Pressekonferenz "Wer wird den Stein wegrollen?" im Andachtsraum des Reichstages

(Es gilt das gesprochene Wort)
Sehr geehrte Frau Tiemann, sehr geehrte Frauen der Arbeitsgemeinschaft Frauenseelsorge,
Sie alle begrüße ich hier im Reichstag stellvertretend für die vielen Frauen (und auch Männer), die es ermöglicht haben, diesen Stein durch ganz Deutschland zu rollen. Seien Sie uns herzlich willkommen im Andachtsraum des Reichstages, im Sitz des Deutschen Bundestages.
Seit dem vergangenen Ostermontag bereits sind Sie mit Ihrem Projekt bundesweit unterwegs, um in jeder Diözese, in der Sie Station machen, Diskussionen anzuregen. In den Mittelpunkt dieser Veranstaltungen haben Sie das Thema der Markus-Überlieferung gerückt: "Wer wird den Stein wegrollen?"
Als ich zum ersten Mal von diesem Projekt gehört habe, war ich sofort sehr angetan - und das, obwohl die Idee doch wirklich ein bisschen verrückt klingt: Schließlich leben wir in den Zeiten des schnellen Reisens mit ICE und Flugzeug, in der Ära von e-mail-Kommunikation, wöchentlich wechselnden Top-Themen in Fernsehen und Presse. Nicht nur die Berufswelt, sondern alle Lebensbereiche unterliegen dem Diktat von Tempo und Effizienz, das oft genug auch in die privaten, familiären Refugien eindringt.
Wer sollte da eine solche "Zeitverschwendung" betreiben, sich diesen Anachronismus leisten, einen riesigen Stein mithilfe vieler Helfer kreuz und quer durch Deutschland zu bewegen, mit einem enormen zeitlichen und technischen Aufwand, nur, um Denkanstöße zu liefern? Hätte es ein zeitgemäßeres Life-Chat im Internet denn nicht auch getan?
Nein, das hätte es nicht, lautet Ihre entschiedene Antwort. Sie haben sich stattdessen ans Werk gemacht, Ihrer Idee praktische Konturen zu verleihen. Es lässt sich leicht vorstellen, wie viel Energie aufzuwenden war, wieviel Überzeugungsarbeit zu leisten, wie viele Steine aus dem Weg zu räumen, wie viele Mitstreiterinnen zu gewinnen waren, um dieses ausgefallene, ganz besondere Projekt des rollenden Grabsteines und seiner Botschaft in vielen Städten zu verwirklichen.
Damit haben Sie sich selbst als die glaubwürdigsten Botschafterinnen Ihres Anliegens bewährt: Sie wollen den Menschen Mut machen, Ziele, von denen sie überzeugt sind, mit Phantasie und Hartnäckigkeit zu verfolgen, sich nicht von den kleinen und großen, den schier unüberwindbaren "Grab-Steinen" davon abhalten zu lassen, nicht vor Widrigkeiten zu verzagen, bevor die Aufgabe in Angriff genommen ist.
Die Belohnung der Frauen im Evangelium dafür, dass sie auf ihrem Weg zum verschlossenen Grab des Jesus nicht umkehrten, war eine unverhoffte, eine nicht kalkulierbare. Das unüberwindbar geglaubte Hindernis, dem ihre Sorge galt, war beseitigt, einfach so, ohne ihr Zutun. Sie, die gekommen waren, den Leichnam einzubalsamieren, erfuhren stattdessen als erste die Botschaft von der Auferstehung Jesu. Wann trauen wir uns heute zu, an einen guten Ausgang eines Problems zu glauben, obwohl alle stringenten Regeln der Problemlösung bereits versagt haben? Wann halten wir, wenn alle Rituale der internationalen Diplomatie ausgeschöpft sind, bei einem langwierigen kriegerischen Konflikt voller Hass auf beiden Seiten trotzdem an der Hoffnung auf eine Lösung fest? Einer Hoffnung, die wieder Energie verleiht, neue Ideen, neue Schritte zur Versöhnung zu wagen.
Sie haben nicht nur in Deutschland den "Stein ins Rollen gebracht", Sie unterstützen mit Ihrer Reise durch das Land auch eine Frauenorganisation in Jerusalem, welche genau dieser Mut auszeichnet. Das Projekt "Women Advocating for Peace" in Jerusalem ist ein Projekt von Frauen, die sich weigern, Steine des Unverständnisses für unverrückbar zu halten. Das Engagement dieser jüdischen, arabischen, christlichen und moslemischen Frauen gilt dem Versuch, Steine der gegenwärtigen Fremdheit, der Verletztheiten aus dem Weg zu räumen und durch ihre Begegnungen gemeinsame Wege des künftigen Lebens in friedlicher Nachbarschaft zu entdecken und zu ebnen. Der augenblicklichen Unversöhnlichkeit zwischen ihren Völkern zum Trotz leiten Israelinnen und Palästinenserinnen ihr Projekt gemeinsam in paritätischer Besetzung.
Dass Sie den Weg des Steins durch Deutschland mit der Unterstützung der Anwältinnen für den Frieden in Jerusalem verknüpfen, finde ich ganz ausgezeichnet. Weil im Nahen Osten die Gräben wieder so tief geworden, die Steine so in Bewegungslosigkeit erstarrt sind, so viele Familien auf beiden Seiten von Trauer über Angehörige wie gelähmt erscheinen, deshalb ist die Arbeit der Frauen in Jerusalem so wichtig. In Israel heute den Dialog zwischen Frauen unterschiedlicher religiöser und politischer Herkunft, zwischen Frauen verschiedener sozialer Herkunft und verschiedener Generationen herzustellen und zu fördern, dieser Vorsatz erscheint mir nicht minder großartig, schwierig und unverzichtbar zu sein als das Vorhaben der Frauen auf dem Weg zum Grab Jesu.
Wenn wir das Projekt "Wer wird den Stein wegrollen?" nun für einige Zeit im Andachtsraum des Reichstages beherbergen, so freut mich dies aus zwei Gründen besonders.
Auch dieser Andachtsraum hier wurde geplant in der Absicht, das Gemeinsame, Verbindende der Religionen und Überzeugungen zu betonen. Jede Konfession kann sich, mit ihren jeweiligen Insignien und Schriften, an diesem Ort zum Gottesdienst versammeln, ohne von einer anderen dominiert zu werden. So hat auch der Künstler versucht, einen Beitrag zum toleranten Miteinander, zur religiösen Verständigung zu leisten.
Der zweite Grund liegt darin, dass dieses Parlament und die deutsche Öffentlichkeit in den vergangenen Wochen erlebt haben, wie schnell Gräben wieder aufreißen können und sich zu vertiefen drohen, die längst überwunden schienen. Gräben zwischen politisch Andersdenkenden, zwischen Generationen, innerhalb einer Generation Ost- und Westdeutscher, zwischen Menschen, die außer ihren Überzeugungen tief erlebte Kränkungen und Verletzungen aus den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts voneinander trennten und trennen. Der Stil dieses Streites ließ das Niveau einer sachlich begründeten, menschlich fairen oder zumindest korrekten Auseinandersetzung innerhalb der Grenzen von wechselseitigem Respekt zum Teil vermissen. Die Gefahr für die politische Kultur in unserer Republik besteht darin, dass der erreichte breite Konsens der bürgerlichen Mitte über Liberalität ohne Not gefährdet wird durch persönliche Verletzungen. So können neue langwierige Kränkungen und damit: neue Steine bei der Entwicklung und Verteidigung der toleranten Demokratie entstehen.
Deshalb danke ich Ihnen dafür, dass Sie uns den "Stein vor die Füße gerollt haben" - möge er uns daran erinnern, dass wir die Probleme des Landes nur im gemeinsamen Ringen der Demokraten um die sachlich besten Argumente lösen können - nicht, indem wir uns steinige Hindernisse in den Weg legen.

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