| Pressemeldung

Pressestatement von Kardinal Karl Lehmann, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, zum 75-jährigen Jubiläum der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Diözesan-Exerzitien-Sekretariate (ADDES) am 18. September 2003 in Bingen / Rhein

Exerzitien sind gefragt. Vielerorts - wie hier in unserem Exerzitienhaus auf dem Rochusberg - ist die Nachfrage größer als das Angebot. Wie kommt das in einer Zeit, in der andere kirchliche Angebote oft weniger wahrgenommen werden? Ich möchte das Jubiläum der Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Diözesanen Exerzitiensekretariate - kurz ADDES - und dieses Pressegespräch gerne nutzen, um diesem Phänomen nachzugehen und etwas von der Bedeutung von Exerzitien für die Menschen und die aktuelle Seelsorge verdeutlichen.

Der Begriff "Exerzitien" ist ja eher sperrig, weckt womöglich unangenehme Assoziationen an Exerzieren und Drill; auch die deutsche Übersetzung - "Übungen" - ist nicht viel einladender. Aber obwohl das zugrunde liegende Konzept, das auf den Gründer des Jesuitenordens, den heiligen Ignatius von Loyola, zurückgeht, fast 500 Jahre alt ist, ist es doch dem Lebensempfinden, den Bedürfnissen und Sehnsüchtigen heutiger Menschen sehr nahe.

Da ist zum Beispiel die aktuelle Tendenz zum Individualismus - mit allen Licht- und Schattenseiten. Der Einzelne möchte als Individuum wahrgenommen werden, ernst genommen mit der je eigenen Lebensgeschichte. Wir möchten den je eigenen Weg finden, diesem Leben einen Sinn abzugewinnen, ihm eine Ausrichtung geben, die einmalig und wie maßgeschneidert ist. Entsprechend misstrauisch sind viele Menschen gegenüber pauschalen oder gar kollektiven Antworten und Orientierungen.

Ignatius aber hat seine Geistlichen Übungen bewusst als Einzel-Exerzitien konzipiert; und er legt den Personen, die solche Übungen anleiten oder begleiten, größte Zurückhaltung bei der Erteilung von Ratschlägen auf. Der / die Übende soll selbst herausfinden, welchen Weg Gott mit ihm oder ihr gehen will. Es geht darum, die Einmaligkeit der je eigenen Berufung zu entdecken und in einen konkreten Lebensentwurf umzusetzen. Da dies aber auf biblischem Hintergrund und im Rahmen einer christlichen Werteordnung geschieht, bleibt die individuelle Lebens-Ausrichtung gemeinschaftsfähig und ist so eher vor Willkür und Unverbindlichkeit bewahrt.

Ein weiterer Aspekt: die Exerzitien leiten zu ganzheitlichen Übungen an. Mit allen Sinnen sollen die Exerzitanten ihr eigenes Leben, ihr Umfeld, aber auch und gerade die biblische Botschaft wahrnehmen. Leiberfahrungen gehören dabei genauso in den Exerzitienprozess wie die Beachtung psychischer Gegebenheiten, natürlich auch geistige Auseinandersetzung und vor allem geistliche Vertiefung. Damit kommen die Exerzitien der Sehnsucht nach einer Spiritualität entgegen, die nicht abgehoben, sondern bodenständig ist und das ganze Leben umfasst und trägt.

Exerzitien haben auch das Ziel, die Menschen aus äußeren und inneren Abhängigkeiten zu befreien. "Nicht gelebt werden, sondern leben!" könnte eine entsprechende Maxime heißen. Das hört sich gut an, ist aber ein mühsamer und oft sehr schmerzlicher Prozess, der sich über mehrere Jahre hinziehen kann. Es geht dabei darum, im Leben und im Glauben erwachsen zu werden, zu lernen, die je eigene Heils- und Unheilsgeschichte anzunehmen und für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Nur so ist es möglich, mit den Schätzen, aber auch den Wunden aus der Vergangenheit eine lebenswerte Zukunft in größtmöglicher Freiheit zu gestalten und zu leben.

Dabei geht es nicht nur um die "Freiheit von ..." sondern auch um die "Freiheit zu ..."; das heißt: nicht die Pflege des eigenen "Seelengärtleins" steht im Vordergrund, sondern das Erkennen und Verwirklichen der eigenen Berufung und Sendung für Kirche und Welt.

Das führt zu einem letzten Aspekt, den ich in diesem Zusammenhang benennen möchte: Exerzitien führen hin und befähigen zu Entscheidung und Entschiedenheit. Und genau damit tun sich viele Menschen heute ja besonders schwer. Nicht nur, aber vor allem bei jüngeren Leuten ist geradezu eine existentielle Angst vor weitreichenden Entscheidungen zu beobachten. Lieber unverbindlich bleiben als sich festzulegen und dabei eine Fehlentscheidung zu treffen.

Hier bieten die Geistlichen Übungen eine geradezu ausgeklügelte Methodik an, zu freien und auf Dauer tragfähigen Entscheidungen zu kommen und diese auch entschieden umzusetzen. Das herausragende Mittel dabei ist die "Unterscheidung der Geister", die zu einem klaren und am Evangelium orientierten Umgang mit allen möglichen inneren Regungen und Bewegungen anleitet. Auf diese Weise kann die eben erwähnte Angst zumindest deutlich verringert und das eigene Leben auf ein einigermaßen sicheres Fundament gestellt werden.

Diese vier Schlaglichter mögen verdeutlichen, warum die Exerzitien trotz ihres Alters und ihrer Verwurzelung in der Tradition aktuell bleiben und viele Menschen ansprechen. Im vergangenen Jahr haben über 250.000 Menschen diese Angebote der katholischen Kirche genutzt. Von hier aus lohnt sich nun ein Blick auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Den Geistlichen Übungen haftet gelegentlich der Ruf an, sie seien ein Angebot für besonders Fromme, die noch frömmer werden wollen.

Das Spektrum derer, die solche Kurse besuchen, ist aber deutlich breiter. Zwar nehmen natürlich auf der einen Seite nach wie vor viele Ordensleute, Priester und kirchliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen teil; auf der anderen Seite finden aber zunehmend gerade solche Menschen den Weg in ein Exerzitienhaus, die eher am Rande des kirchlichen Lebens stehen, sich kritisch mit dem Glauben auseinandersetzen, vielleicht sogar schon aus der Kirche ausgetreten sind. Hier sehe ich eine große Chance, die sogenannten Fernstehenden wieder mit der Frohen Botschaft Jesu zu erreichen. Erwähnen möchte ich aber auch, dass viele evangelische Christen gerne und regelmäßig in unseren Häusern Exerzitien machen und mit den dabei gewonnenen Erfahrungen in ihrer eigenen Kirche neue spirituelle Impulse setzen.

Nur ein breit gefächertes Angebot von Kursformen kann den unterschiedlichen Zielgruppen und Bedürfnissen gerecht werden. So gibt es Schnupperkurse übers Wochenende, drei- bis viertägige Kurzexerzitien, Exerzitien mit Gemeinschaftselementen, die in der Regel 6 Tage dauern und schließlich die klassischen Einzelexerzitien, die meist über 10 Tage angeboten werden, ihre volle Entfaltung aber in den sogenannten Großen Exerzitien finden, die einen ganzen Monat umfassen.

Eine solide Grundlage für alle diese Angebote bieten die Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola, der aber seinerseits schon auf eine breite kirchliche und vor allem klösterliche Erfahrung zurückgreifen konnte. Die verschiedenen geistlichen Traditionen der Kirche sorgen aber dafür, dass sich aus dieser Wurzel, um es einmal bildlich auszudrücken, ein großer Baum mit vielen dicken und dünneren Ästen entwickelt hat. So gibt es Exerzitien mit benediktinischem, franziskanischem oder karmelitanischem Akzent. Auch die Geistlichen Bewegungen wie Schönstatt, Charismatische Gemeindeerneuerung oder die Gemeinschaft Christlichen Lebens, um nur einige beispielhaft zu nennen, haben ein entsprechendes Angebot, das ihrer jeweiligen spirituellen Prägung entspricht und Menschen mit unterschiedlichen spirituellen Bedürfnissen anspricht.

All diesen Angeboten ist gemeinsam, dass sie dazu einladen, den Alltag für eine bestimmte Zeit zu verlassen und sich in die Stille und Abgeschiedenheit eines Exerzitienhauses zurückzuziehen.

Daneben hat sich in den letzten Jahren eine neue Form entwickelt, die sich zunehmender Beliebtheit erfreut: Exerzitien im Alltag. Dabei gehen die Teilnehmenden ihrer ganz normalen alltäglichen Beschäftigung - zum Beispiel in Beruf und/oder Familie - nach, nehmen sich aber über einen Zeitraum von etwa 5 Wochen täglich mindestens eine halbe Stunde Zeit für Gebet und Meditation anhand von Impulsen, die eigens dafür zusammengestellt worden sind. Diese Form kommt zum einen Menschen entgegen, die - aus welchen Gründen auch immer - nicht so lange in ein Exerzitienhaus gehen können. Zum anderen aber haben Exerzitien im Alltag für alle den Vorteil, dass sie keinen Kontrast zum "normalen Leben" bilden, sondern unter bestimmten Bedingungen dieses vielleicht intensiver als sogenannte geschlossene Exerzitien spirituell durchdringen können.

Diese beiden Grundformen stehen aber nicht in Konkurrenz zueinander; vielmehr können sie sich gegenseitig befruchten und ergänzen.

Für Angebot und Koordination der Exerzitien sind seit nunmehr 75 Jahren die diözesanen Exerzitiensekretariate verantwortlich. Die ADDES als deren Zusammenschluss hat in den zurückliegenden Jahren einen unschätzbaren Anteil daran, dass Exerzitien in den unterschiedlichsten Formen gefördert und weiterentwickelt wurden. Zudem boten und bieten die Studientage und Konferenzen den Verantwortlichen Jahr für Jahr die Möglichkeit zu qualifiziertem Austausch und Weiterbildung. Die Übersicht über die Themen, die Ihrer Pressemappe beiliegt, mag Ihnen davon einen Eindruck vermitteln. Für all die wertvolle Arbeit und das große Engagement danke ich im Namen der Bischöfe allen Verantwortlichen der ADDES, vor allem ihrer Geschäftsführerin, Frau Dr. Marianne Tigges, und den verantwortlichen Sprecherinnen und Sprechern - derzeit Herr Domvikar Paul Weismantel aus dem Bistum Würzburg und Frau Angela Lang hier vom Rochusberg - sehr herzlich. Bleibt mir nur noch, dem Wunsch Ausdruck zu geben, dass auch in der kommenden Zeit die ADDES ihrem Auftrag treu bleibt und die Exerzitienbewegung lebendig hält - getreu ihrem Motto: Leben ordnen - Glauben vertiefen.

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