| Pressemeldung

Predigt von Kardinal Karl Lehmann beim Ökumenischen Gottesdienst in der St. Marienkirche anlässlich des 50. Jahrestages des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 mit dem Vorsitzenden des Rates der EKD, Präses Manfred Kock, am 17. Juni 2003 in Berlin

Es gilt das gesprochene Wort!
Soll man eine solche Niederlage wie den 17. Juni 1953 überhaupt feiern? Er ist ja nicht nur ein Misserfolg, weil der Aufstand niedergeschlagen worden ist. Viel schlimmer ist noch der Tod bei so vielen standrechtlichen Hinrichtungen, vor allem Erschießungen, und so vieler Toter und Schwerverletzter bei den Schüssen in die Menge. Eine Niederlage ist dieser Tag auch, weil wir ihn in Ost und West 50 Jahre ziemlich schmählich behandelt haben. Im Westen war er für die meisten ein Ausschlaf- und Badetag, im Osten hat man ihn selbstverständlich aus dem Gedächtnis radieren wollen, als ob er nur durch die Hetze ausländischer Agenten inszeniert worden sei. Jetzt ist der Gedenktag ohnehin vorbei und durch den 3. Oktober abgelöst.

Aber das wäre wohl ein falscher Schluss aus der gewiss nicht zu leugnenden Niederlage. Immerhin war es der erste Aufstand in einem sowjetisch besetzten Land. Ungarn, die Tschechen und die Polen folgten danach. Die Menschen sind trotz der Verluste stolz geworden, dass sie den Mut gehabt haben, gegen die Diktatur aufzustehen. Schließlich gingen die Bilder vor allem der jungen Menschen um die Welt, die sich angesichts der auf sie gerichteten Geschütze auf den sowjetischen Panzern mit Steinen gegen sie wandten, Antennen herunterrissen und sie zum Halten brachten. Es waren auch nicht wenige, die nun in eine vielfältige Opposition gingen, wie z.B. der Schriftsteller Erich Loest, der schrieb: "Du hast schon einmal als Hitlerjunge nur dem Führer geglaubt. Dann hast du in dieser SED noch einmal dein Gewissen abgegeben. Ab jetzt brauchst du dein Gewissen, ab jetzt machst du nicht mehr mit!" Manches bleibt freilich bis heute dunkel. So wissen wir nicht einmal genau die Zahl der Toten, mit der durch Unter- oder Übertreibung von verschiedener Seite Kapital geschlagen worden ist.

Es blieb bei vielen Machthabern Angst. Man redete vom "Tag X". Die Menschen hatten Hoffnung, weil sie wussten, dass nur die russischen Panzer die DDR-Regierung gerettet hatten. Sie wollte unter Einsatz aller Repressalien die Wiederholung eines solchen Tages vermeiden. Der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Ernst Reuter, sagte beinahe prophetisch am Abend des 18. Juni 1953: "Niemand kann sagen, ob es - dieses größte Ereignis unserer Geschichte - uns heute, morgen oder übermorgen zum Ziel führen wird. Aber das wissen wir: ... keine Macht der Welt, niemand wird auf die Dauer uns Deutsche voneinander trennen können. Wir werden zusammenkommen, wir werden zusammenwachsen, wie wir seit langem in dieser Not innerlich zusammengewachsen sind." So hat tatsächlich der "Tag X" am 9. November 1989 stattgefunden. Die russischen Panzer haben nicht mehr eingegriffen. Jetzt war das Ziel erreicht. Der 17. Juni 1953 war nicht umsonst.

In diesem Zusammenhang fällt mir immer wieder das Lied der Armen ein, das zugleich ein Lied der Hoffnung ist. Ich meine den Lobpreis Mariens. Es sind besonders die Verse: "Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten: Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen." (Lk 1,51-53) Gott stellt nicht bloß unsere Verhältnisse auf den Kopf, sonder er kehrt auch unsere Verhältnisse um. Das in den Psalmen vorherrschende Thema der "Armen" ist hier wieder zentral aufgenommen. Sie sind zuerst gewiss die wirtschaftlich Armen gemeint, die auch heute noch um ihre Existenz bangen. Aber es sind auch alle mitgemeint, die unterdrückt und ausgenützt werden, einsam und verlassen sind. Die Reichen sind nicht bloß die Mächtigen dieser Welt und die großen Besitzer, sondern auch - eine Mahnung für uns alle gerade auch angesichts des Schicksals dieses Gedenktages - die Stolzen, Satten, Selbstgenügsamen und Selbstzufriedenen. Das Wunder Gottes besteht darin, dass sein Heil allen Erfolgsregeln der Welt zum Trotz die Niedrigkeit des Menschen nicht scheut. Auch im Elend der Geschichte, in ihrer Vergeblichkeit gibt es für alle ein Licht. Gott verbirgt sich im Kleinen und Vergessenen, schließlich auch in dem, der nach menschlichen Maßstäben gescheitert und unter die Räder gekommen ist. Wo wir achselzuckend sagen: Pech gehabt! Maria singt das Lied der Armen und Bedrängten, der kleinen Leute. Es ist das Lied einer unbezwingbaren Hoffnung. Die Macht Gottes erweist sich in der grenzenlos rettenden, ermutigenden Liebe. Sie setzt sich am Ende gegen alle böse Macht des Menschen durch. Darum gibt es auch vor Gott keine endgültig Verlorenen und Hoffnungslosen, es sei denn, wir sind zu stolz und ergreifen nicht die rettende Hand, die uns entgegenkommt. An Maria - wir sind in einer Marienkirche - ist dies alles wahr geworden, stellvertretend für alle Geringen und für alle, die glauben. Martin Luther hat es uns in seiner Magnifikat-Auslegung eindrucksvoll vor Augen gestellt.

In der Geschichte wiederholt sich nichts. Aber es gibt doch erstaunliche Parallelen und ähnliche Strukturen in Ereignissen. Der Aufstand am 17. Juni 1953, der militärisch und politisch gesehen schon am Abend erstickt war, war nicht vergeblich. Die Opfer mahnen uns auch noch heute, dass wir ihre Hoffnung auf ein Leben in Einheit und Freiheit nicht verraten. Sie war ja auch so klein, diese Hoffnung. Aber sie hat nicht getrügt. Vielleicht haben damals nicht so viele diese Hoffnung ausdrücklich aus ihrem Glauben geschöpft. Immerhin waren damals noch, wie uns die Historiker sagen, 80 % der DDR-Bevölkerung evangelisch, 11 katholisch und 7 konfessionslos. Sie haben vielleicht doch mehr vom Kreuz Jesu Christi, dem Zeichen der Passion und der Auferstehung, gelernt. So haben sie über ein von Panzern überfahrenes Opfer hastig und ganz spontan ein Holzkreuz zusammengezimmert und auf die Straße gestellt. Die Saat ist, schmerzlich genug für alle Opfer und ihre Angehörigen bis heute, am Ende für uns alle aufgegangen. Dann sollten wir freilich auch unsere vergleichsweise kleinen Probleme von heute wirklich miteinander bewältigen.

Es bedarf freilich des Glaubens, um dieses Geheimnis zu entdecken und ganz anzunehmen. "Da lässt er die Rechtschaffenen ihrer Kraft beraubt und unterdrückt werden, so dass jedermann meint, es sei mit ihnen aus, es habe ein Ende; aber eben dann ist er mit seiner Stärke am nächsten, so ganz verborgen und heimlich, dass es diejenigen nicht einmal selber empfinden, welche die Bedrückung leiden; vielmehr sind sie aufs Glauben angewiesen. Da ist die volle Stärke und der ganze Arm Gottes... Wenn nun die Bedrückung aus ist, dann kommt's heraus, was für eine Stärke unter der Schwäche dagewesen ist... In solcher Weise sind alle Märtyrer stark gewesen und haben's gewonnen, und so gewinnen's auch jetzt noch alle Leidenden und Unterdrückten." (Luther, Das Magnifikat, Nr. 6) Mit Maria, der Mutter des Herrn, dürfen wir also zusammen mit vielen Opfern von damals beten: "Auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter. Denn der Mächtige hat Großes an mir getan, und sein Name ist heilig. Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten." (Lk 1,48-50) Amen.

Für die historische Seite des 17. Juni 1953 waren folgende Bücher hilfreich: Hubertus Knabe, 17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand, Berlin 2003 (Propyläen), Guido Knopp, Der Aufstand 17. Juni 1953, Hamburg 2003 (Hoffmann und Campe), Volker Koop, Der 17. Juni 1953. Legende und Wirklichkeit, Berlin 2003 (Siedler).
Luthers Magnifikat-Auslegung wird zitiert nach: Das Magnifikat. Verdeutscht und ausgelegt durch D. Martin Luther. Mit einer Einführung von Dr. Albert Brandenburg = Herder-Taschenbuch 175, Freiburg 1964 u.ö.

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