| Pressemeldung

Predigt von Kardinal Joachim Meisner, Erzbischof von Köln,

bei der Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Stuttgart (18. bis 21. Februar 2002) am 21. Februar 2002

Liebe Brüder, liebe Schwestern!

„Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht“ (Röm 1,16), bekennt der Apostel Paulus, und er fordert seinen Schüler Timotheus auf, sich seiner nicht zu schämen, weil er ein Gefangener im Herrn ist. Unsere Welt braucht einen unverschämten Glauben. Das Wichtigste und alles bis in die tiefsten Tiefen Verändernde in der Geschichte der Menschheit ist, dass Gott in seinem Sohn Jesus Christus ein Glied dieser Menschheit wurde mit allen Konsequenzen. Das ist das alles Entscheidende und nicht zuerst, wie gut die Menschen diese Botschaft annehmen. Freilich, für die Menschen steht damit alles auf dem Spiel. Annahme oder Ablehnung entscheidet über das Gelingen ihres Lebens. Eine christliche Verkündigung, die in ihrer Mitte nicht Christus als die Wirklichkeit Gottes in der Welt enthält, also eine Wirklichkeit, die keine andere Religion mit all ihren Konsequenzen zu denken gewagt hat, hätte ihre Unvergleichlichkeit und ihr Wesen aufgegeben. Dass Christus aber „Erlöser außer Konkurren“ ist, erscheint dem modernen Denken so widersprechend, dass es uns gelegentlich vernünftiger erscheint, unser eigenes Denken einzuordnen in das Denken der meisten Zeitgenossen. Aber wir retten das Evangelium mit seiner Dynamik nur, wenn wir die anstößige und überwältigende Wirklichkeit Christi bewahren. Vergessen wir nicht, dass mit der Botschaft vom Kreuz Gott selbst den Skandal in das Evangelium eingestiftet hat. Ein unverschämter Glaube ist darum immer zugleich auch ein skandalfester Glaube.

Zeitgenössische, ungläubige Philosophen – wie etwa Max Horkheimer – haben den Versuch von Theologen angeprangert, sich am Glaubenskern vorbeizumogeln, indem sie etwa die Heiligste Dreifaltigkeit, den Himmel und die Hölle, die Menschwerdung und damit verbunden die Jungfrauengeburt, die eucharistische Realpräsenz sowie die Erzählungen der Bibel ins rein Symbolische zurückstufen und so „unanstößig“ machen. Sie sagen: Wenn Theologen das Dogma ausklammern, ist die Geltung ihrer Rede nichtig. Sie beugen sich nämlich dann jener Furcht vor der Wahrheit, in der die geistige Verflachung der Gegenwart wurzelt. Die Inkarnation aus der Kraft des Heiligen Geistes durch die Jungfrau Maria, die Inspiration der heiligen Schriften, die reale Auferstehung Christi, die Realpräsenz Christi in der Eucharistie, all das sind Glaubenswahrheiten, um die man heute in der Kirche einen weiten Bogen schlägt. Aber so kann man die Kirche und damit auch die Welt nicht retten! Sie muss vielmehr ihr ureigenes Tun und den Auftrag erfüllen, auf dem ihre ganze Identität gründet, nämlich Christus unverfälscht verkünden und sein Reich bekanntmachen. Gerade so – und nur so – entsteht der geistige Raum, in dem das Moralische und Ethische ihre Existenz zurückgewinnen, und zwar weit über den Kreis der Glaubenden hinaus. Ihre Verantwortung für die Gesellschaft muss die Kirche in dem Sinne wahrnehmen, dass sie das Göttliche und das daraus folgende Moralische einsichtig werden lässt. Sie muss überzeugen. Indem sie Überzeugung schafft, öffnet sie den Raum für das, was ihr anvertraut ist und immer nur über Verstand, Wille und Gefühl für den Menschen zugängig werden kann. Die Kirche muss leidensbereit sein; nicht durch institutionelle Stärke, sondern durch Zeugnis, durch Liebe, durch Leben und Leiden muss sie dem Christlichen den Raum bereiten und so der Gesellschaft helfen, ihre moralische Identität wieder zu finden. In der Person Christi ist die Welt Gottes eingesenkt in unsere Welt. Das ist sichtbar und erfahrbar an einem fixierbaren Punkt der Zeit und des Raumes unserer Geschichte geschehen. Das Heil ist zu uns gekommen und ist nicht wieder weggegangen. Nach der Auferstehung ist die räumliche und zeitliche Präsenz Gottes in Jesus Christus ausgeweitet. Aber sie ist räumlich und zeitlich in der Kirche präsent geblieben. Christus wird in der Christologie als „Ecce Deus“ und als „Ecce Homo“ definiert. Unsere europäische Anthropologie ist darum christologisch definiert: „wahrer Gott und wahrer Mensch". Diese Glaubenswirklichkeit betont nämlich die enge Verwandtschaft zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen, ihre wesensgemäße Übereinstimmung, die es dem göttlichen Wort ermöglicht, Träger der menschlichen Natur zu werden. Die ursprüngliche Gottähnlichkeit des Menschen, der ja nach dem Bilde Gottes erschaffen ist, vollendet sich deshalb in der Menschwerdung des Sohnes Gottes. Die Menschheit Christi offenbart so die gottmenschliche Struktur der menschlichen Natur. Denn wie ein Spiegel keinen nichtexistierenden Gegenstand widerzuspiegeln vermag, so ist in der Tat die menschliche Person in ihrem Durst nach dem Absoluten und dem Unendlichen ohne einen absoluten Archetyp unerklärlich. Gerade in der gottesgestaltigen und gottmenschlichen Struktur seiner Person entdeckt der Mensch die Gottesvorstellung, mehr noch: die wirkliche Gegenwart des Göttlichen und eine schöpferische Kraft, die keineswegs natürlich ist. Deshalb ist die Frage nach dem Menschen zutiefst und zuerst eine theologische und dann erst eine biologische.

Die Welt mit ihren Menschen braucht diese Botschaft des Evangeliums. Darum ist die Kirche – je kleiner sie wird – umso wichtiger für die Welt mit ihren großen Problemen. Die Gefahr für die Kirche liegt aber darin, in der vorherrschenden Gedankenwelt des Zeitgeistes aufzugehen und sich damit selbst überflüssig zu machen. Solche Zeichen der Selbstsäkularisierung zeigen sich nicht nur im Akademischen, sondern auch im alltäglichen Leben der Kirche, indem etwa die Caritas höher im Kurs steht als die Liturgie. Wer die wesentlichen Fragen des Evangeliums – etwa im Religionsunterricht – nicht mehr thematisiert zugunsten einer frommen Sozialkunde, wer das eingestiftete Ärgernis des christlichen Glaubens aus dem kirchlichen Leben verdrängt, um etwa dem Vorwurf des Fundamentalismus zu entgehen, gibt die geistliche zugunsten der zeitgeistlichen Verkündigung auf. Der Trend zur weltanschaulischen Verwechselbarkeit lässt die Kirche mit ihrer Botschaft bedeutungslos werden. Wenn es nun heute bisweilen heißt: „Die Kirche sollte nicht so deutlich, nicht so sicher und fordernd auftreten“, dann ist zu antworten: Welche verheißungsvolle Perspektive verspricht denn ein klug angepasstes, leises Christentum, dass es sich lohnte, sich zu ihm zu bekennen oder ihm auch nur die Treue zu halten? Wer soll sich denn von etwas angezogen fühlen, von dem der Verkünder selbst nicht so überzeugt zu sein scheint, dass man es – allen Widerständen zum Trotz – unverkürzt hinausspricht. Auf dem pluralen Markt der Heilsangebote ist unsere Kirche heute – anders als früher – längst nur noch „ein Anbieter unter vielen“. Um gegen die Masse der Scharlatane bestehen zu können, müssen wir, um der Menschen willen, in und mit der Kirche unser theologisch-geistliches Profil schärfen. „Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens“ (Joh 6,68), bekannte Petrus, auf den Christus bekanntlich seine Kirche erbaute, in einer Situation, in der vielen die unverkürzte Botschaft unerträglich schien. Immer wieder werden wir der Versuchung begegnen müssen, die Kirche müsse sich mit bestimmten Gegebenheiten der modernen Welt abfinden, also mit den neuen Auffassungen im Bereich von Ehe und Familie und anderen Partnerschaften, mit den menschenverachtenden Vorstellungen über Wert und Würde der embryonalen Kinder und mit anderem mehr. Wer das nicht tut, geht unmittelbar den Weg ins Getto, so sagt man. Die Angst vor der drohenden Bedeutungslosigkeit verführt deshalb nicht wenige, die kirchliche Lehre – wo sie sich nach heutigem Empfinden als zu sperrig erweist – zu verkürzen, und ihre klar fordernden Aussagen abzuschwächen. Es scheint oft gut gemeint zu sein, gleichsam wie ein notwendiges Übel, dass man um der Menschen willen derartige Modernisierungen auf sich nehmen müsse, wolle man sie überhaupt noch erreichen. Doch ist die Sorge, aus der solche Überlegungen erwachsen, tatsächlich berechtigt? Die ersten Christen befanden sich in einer weitaus schwierigeren Situation als wir heute. Wer sich damals zu Christus bekannte, wurde verfolgt, statt bloß gelegentlich verhöhnt zu werden; statt ins Getto zog es jedoch die Urchristen auf den Marktplatz und das trotz der damaligen prekären Situation. Sie waren tatsächlich äußerlich nichts anderes als eine Sekte. Sie lebten in einer Gesellschaft, deren Hedonismus es mit dem heutigen aufnehmen konnte. In aller Öffentlichkeit verkündeten sie jedoch der damaligen Zeit das unverkürzte Evangelium. Das Ergebnis ist uns allen bekannt. Hier heißt es nur: Gehe hin und tue desgleichen. Das bedeutet, sich des Evangeliums nicht zu schämen. Es gibt nach dem Willen Christi kein angepasstes, modernes Christentum zu verbilligten Preisen! Die Kirche wächst, erstarkt und entwickelt sich durch die Heiligkeit ihrer Glieder. Das Ringen um die Reevangelisierung Europas ist im Zusammenhang mit der Überzeugung des hl. Augustinus zu sehen, der in der Weltgeschichte den Kampf der Selbstliebe bis hin zur Gottesverachtung und der Gottesliebe bis hin zur Selbstverachtung sieht. Die Geschichte ist geprägt von der Auseinandersetzung zwischen Liebe und der Unfähigkeit zu lieben. Deshalb sollte die Kirche auch in Gelassenheit und Vertrauen versuchen, sie selbst zu werden, die Wahrheit zu verkünden und die Liebe zu leben, die in sich Kräfte sind, die andere anstecken und verwandeln. Ein russischer Verwaltungsbeamter aus der Zarenzeit zeigte sich erstaunt über die Weigerung eines orthodoxen Missionspriesters, die Heiden eilends zu taufen. Der Priester wies alle administrativen und insbesondere statistischen Besorgnisse zurück und ließ die Ungläubigen in sehr bescheidenen Diensten die Liebe Christi fühlen und die Wahrheit Christi hören. „Sie sollen nur einmal anfangen, den Saum des Kleides Christi mit ihren Händen und Ohren zu berühren“, sagte er: „Sie sollen seine unermessliche Liebe und Wahrheit spüren, und dann wird der Herr sie selbst verzaubern.“ Christus in dieser Weise berührbar und hörbar werden zu lassen ist uns aufgegeben. Können unsere Zeitgenossen wirklich den Saum seines Kleides berühren, wenn sie mit uns in Berührung kommen? Dass sie seine Wahrheit hören, wenn wir predigen, sollte unsere permanente Sorge sein!

Amen.

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