| Pressemeldung | Nr. 149

Predigt von Bischof Norbert Trelle, Bischof von Hildesheim, in der Bonifatiusandacht anlässlich der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda

Sternstunde der Menschheit (Apg 16,6–10)

Liebe Mitbrüder im Bischofs-, Priester- und Diakonenamt,
liebe Schwestern und Brüder im Herrn!

Es erscheint geradezu nebensächlich, jedenfalls ist es eine eher unscheinbare Stelle aus der Heiligen Schrift, die in dieser abendlichen Andacht aufgerufen ist. Keine Sintflut, kein Auszug aus Ägypten, kein Golgota. Es ist eine Reisenotiz aus der Apostelgeschichte, die von der zweiten Missionsreise des Apostels Paulus berichtet. Es läuft nicht gut für ihn in Kleinasien, er hat eine Vision, die ihn auffordert nach Mazedonien zu kommen. Und er geht nach Mazedonien.

Nun gut, möchte man registrieren. In Wahrheit jedoch handelt es sich um eine der symbolisch bedeutendsten Ereignisse der Weltgeschichte. Der zunächst unscheinbare Reisebericht hätte es verdient in Stefan Zweigs Sternstunden der Menschheit aufgenommen zu werden. Zweig schreibt im Vorwort zu seiner Sammlung historischer Miniaturen: „Solche dramatisch geballten, solche schicksalsträchtigen Stunden, in denen eine zeitüberdauernde Entscheidung auf ein einziges Datum, eine einzige Stunde und oft nur eine Minute zusammengedrängt ist, sind selten im Leben eines Einzelnen und selten im Laufe der Geschichte. […] Ich habe sie so genannt, weil sie leuchtend und unwandelbar wie Sterne die Nacht der Vergänglichkeit überglänzen.“  - Die „Weltminute von Waterloo“ (1815) findet sich darin, die Eroberung von Byzanz durch die Osmanen (1453), auch Händels Komposition des „Messias“ (1741). Der unscheinbare Reisebricht aus der Apostelgeschichte gehörte eigentlich auch dazu.

Paulus verlässt die Provinz Kleinasien und wendet sich Mazedonien zu. Das Christentum kommt nach Europa. Und in dieser Zuwendung zu Europa begibt sich Paulus in zwei andere Ursprungsgeschichten des Kontinents. Er begibt sich in den Raum der griechischen Philosophie und in den Raum des römischen Rechts. Beide Ursprungsgeschichten werden vom Christentum produktiv aufgenommen, über die Zeiten gerettet und zur Synthese geführt. Paulus wendet sich Europa zu, das ist eine Ursprungsgeschichte des Kontinents, neben den beiden anderen Ursprüngen. Aus ihnen, aus griechischer Philosophie, aus römischem Recht, aus christlichem Glauben bildet sich Europa um vom Territorium, vom Wirtschafts- und Sozialraum zur humanen Idee. Diese Idee wurde über Jahrhunderte unter dem Begriff christliches Abendland durchgetragen.

Papst Benedikt XVI. hat dieses Wort zwar nicht genannt in seiner großen und maßstäblichen Rede vor dem Deutschen Bundestag, aber er hat den Begriff innerlich aufgeschlossen als Ökonomie des europäischen Geistes aus Recht, Vernunft und Glauben.

Manch einer meint, die Rede vom „christlichen Abendland“ gehöre in die politische Kamprhetorik der Konservativen oder in die Pfründe-Interessen der Kirchen; zudem könnte man meinen, „christliches Abendland“ spreche sich leicht aus im Mund eines Predigers, dessen seelischer Hintergrund der sakrale Raum ist. Wer in diesem wunderbaren Dom steht in Fulda, oder im Kaiserdom von Aachen, oder auch im Hildesheimer Dom, der redet eben auch erhaben über das christliche Abendland.

Der Hintergrund dieser Predigt ist jedoch ein prägnant politischer: Wir erleben eine existentielle Krise Europas. Es ist zunächst eine ökonomische Krise europäischer Staaten und eine Krise um den Euro. Kurz: die Märkte verlieren das Vertrauen in Europa. Und es beginnt nach der ökonomischen eine politische Verschärfung: die Menschen verlieren das Vertrauen in Europa. Erst der Vertrauensverlust der Märkte, dann der Vertrauensverlust der Menschen. Ist diese schleichende Abwendung von Europa nur in Ängsten um die Stabilität des Geldes oder in der Angst vor dem Verlust des Wohlstands begründet? Das sicher auch und vielleicht auch in erheblichem Maße.

Zentral aber für den Vertrauensverlust der Menschen ist das, was Jürgen Habermas vor Jahren im Gespräch mit unserem Papst - damals noch Präfekt der Glaubenskongregation - „entgleisende Moderne“ genannt hat. Er meinte damit eine ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung der Freiheit, die immer mehr ihre Rückbindungen an ethische Vorgaben und religiöse Intuitionen verliert. So nämlich geht Vertrauen verloren:

  • Wenn die Kündigung von 4.000 Arbeitsplätzen von den Börsen honoriert wird.
  • Wenn es sich in dieser Gesellschaft beruflich und rentenrechtlich lohnt, keine Kinder zu bekommen.
  • Wenn der Wohlstand vor allem mit fiskalischen oder ökologischen Belastungen der nächsten Generation erkauft wird.
  • Wenn die wesentliche Unterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf biotechnologisch eingeebnet wird.

Diese Beispiele stehen für existenzielle Angriffe auf das Vertrauen der Menschen, egal welche Argumente dafür herhalten müssen. Und viele fragen dann weiter: Wofür steht Europa noch? Ist es ein Territorium oder eine humane Idee?

Papst Benedikt XVI. hat vor dem Bundestag ein mutiges Plädoyer für die Erneuerung Europas als humaner Idee gehalten. Und dies bedeutet eine Erneuerung der Ökonomie des Geistes für unseren Kontinent vor einer Ökonomie des Geldes. Seine Rede ließ sich durchaus auch hören wie ein Kommentar zu Goyas berühmter Radierung „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Der Schlaf der Vernunft in einer absolut gesetzten Verfahrenstechnik von Mehrheitsentscheidungen, der Schlaf der Vernunft in einem Machbarkeitswahn, in dem das Recht Schaden nimmt gegenüber dem uns vertrauten und anvertrauten Menschen. Demgegenüber hat der christliche Glaube eine schützende Rolle, er erinnert die Vernunft daran, dass sie unter dem „gestirnten Himmel“ (Kant) steht. Der Glaube erinnert das Recht an seine unverfügbaren Voraussetzungen, die in keiner positiven Setzung überflügelt werden können. Das Christentum beansprucht keine herrschende Rolle, es schreibt der Vernunft kein Offenbarungsrecht vor, die Idee der Scharia ist ihm fremd, aber es hat eine kritische Rolle, indem es für die Erneuerung der europäischen These von Vernunft, Recht und Glaube eintritt.

Erst geht das Vertrauen der Märkte, dann das Vertrauen der Menschen verloren. Wir erleben es in diesen Tagen der Banken- und Euro-Krise auf dramatische Weise. Kann man in dieser Vertrauenskrise aus der Erfahrung einer „entgleisenden Moderne“ mit „christlichem Abendland“ Politik machen? Wohl kaum. Das „christliche Abendland“ rettet uns nicht vor fallenden Börsenkursen. Es ist aber eine kritische Aufforderung an unsere Gesellschaft zur ethischen Auskunft über eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Pragmatismus alleine schafft noch kein Vertrauen. Wenn nicht die ethischen Grundlagen angefragt werden, bewegen wir uns weiterhin auf schwankendem Grund. In vielfacher Hinsicht sind wir daher dem Heiligen Vater dankbar für seine wegweisenden Worte im Deutschen Bundestag.

Deshalb noch einmal und gegen leere Worthülsen seiner Vorab-Kritiker gesagt:

Paulus geht nach Mazedonien. Er wendet sich Europa zu. Zuwendung ist die erste Tugend einer Kirche, deren Sendung es ist, Gottes erlösende Liebe und seine Gerechtigkeit allen Menschen zu bringen – in Europa und jenseits unseres Kontinentes, wenn immer Menschen, wie einst der Mazedonier, uns zurufen: „Komm – hilf uns!“. Amen.

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