| Pressemeldung | Nr. 079a

Predigt des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Kardinal Lehmann,

im Eröffnungsgottesdienst zur Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am Dienstag, 26. September 2006 in Fulda

Es gilt das gesprochene Wort!

Messformular: Um Frieden und Gerechtigkeit
Lesungen: Jes 32,15-18 und Mt 5,1-12a (Predigttext)



Gerechtigkeit und Barmherzigkeit

Wir machen uns mit vielen betroffenen Menschen und Verantwortlichen in Gesellschaft und Politik Gedanken über das, was Gerechtigkeit, besonders in sozialer Hinsicht, heißt. Wir wissen, warum schon die klassische Theologie und Philosophie bei der Aufzählung der Kardinaltugenden (Klugheit, Gerechtigkeit, Maß, Tapferkeit) die Klugheit als eine überall notwendige Verhaltensweise, die Gerechtigkeit jedoch als Fundament für alle anderen Formen menschlichen Zusammenlebens betrachtet. Ähnlich sagt es auch der Prophet Jesaja in der heutigen Lesung: „In der Wüste wohnt das Recht, die Gerechtigkeit weilt in den Gärten. Das Werk der Gerechtigkeit wird der Friede sein, der Ertrag der Gerechtigkeit sind Ruhe und Sicherheit für immer.“ (32,16 f.) Dies steht zunächst in einer Spannung zu der Aussage des Evangeliums über die Barmherzigkeit und die Gerechtigkeit: „Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden satt werden. Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden.“ (Mt 5,6 f.)

Oft hat man Gerechtigkeit und Barmherzigkeit als äußerste Gegensätze gesehen. Gerecht erscheint als das, worauf man einen Rechtsanspruch hat. Jeder soll das Geschuldete bekommen. Zugleich wissen wir aus der Heiligen Schrift und unserer Erfahrung, dass wir vor der absoluten Forderung nach Gerechtigkeit nicht bestehen können. Wir versagen immer wieder im Erfüllen dessen, was geboten und gerecht ist. In diesem Sinne führt die „Gerechtigkeit“ fast notwendig zur Verwerfung des Sünders. So müssen wir immer wieder auch Erbarmen vor Recht ergehen lassen, da jeder Schuldner des anderen und auch Gottes ist und deshalb von der Barmherzigkeit lebt (vgl. Lk 6,36).

Nun hat es die Barmherzigkeit unter den Tugenden immer auch etwas schwer gehabt. In der alten Welt bedeutet es oft zunächst Rührung über die unverschuldete Not eines anderen Menschen. Manche versuchen damit Mitgefühl und Verständnis, ja auch Hilfsbereitschaft zu erzeugen. Aber die philosophischen Tugendlehren haben immer auch etwas scheel und geringschätzig auf die Barmherzigkeit heruntergeschaut. Sie wurde vor allem als bloß sinnliche Erregung verstanden und darum auch als sittlich minderwertig beurteilt. So empfand Kant die Barmherzigkeit als „eine beleidigende Art des Wohltuns“. Nietzsche sah in ihr einen weichlichen Egoismus, der das Leiden in der Welt nur noch vermehrt und den Leidenden auch entehrt. „Wahrlich, ich mag sie nicht, die Barmherzigen, die selig sind in ihrem Mitleiden: zu sehr gebricht es ihnen an Scham.“ (Also sprach Zarathustra II)

Es ist schon etwas dran. Zur Schau gestellte Barmherzigkeit kann den Bedürftigen und Armen, aber auch denjenigen, der Vergebung erfährt, noch mehr erniedrigen. Wir kennen neben Erbarmen das Wort erbärmlich: Not und Elend können erbärmlich sein, aber auch ein gnädiger, von oben herablassender Umgang mit Menschen in vielfältiger Not. Dennoch brauchen wir so etwas wie Barmherzigkeit. Schon die alte Welt wusste, dass man gerade dann, wenn man eine strenge Gerechtigkeit fordert, auch wieder den konkreten Situationen menschlich entsprechen und begegnen muss. So ist z. B. die „Billigkeit“ wichtig, die primär auf die Absicht eines Gesetzes schaut und um Lücken weiß. Es braucht aber auch die Freundschaft unter den Menschen. Wo Zuneigung herrscht, kann man einem Menschen besonders gerecht werden. Die Gerechtigkeit braucht wegen der Gleichheit für alle eine generelle Norm; aber auch der Einzelfall braucht in seiner unverwechselbaren Besonderheit Beachtung und Rücksicht. Man braucht auch viel Takt, um dabei nicht willkürlich und ungerecht zu werden.

Deshalb ist es verständlich, dass wir zuerst Gott selbst barmherzig nennen. Viele Worte in der Bibel sind uns dabei sehr geläufig: „Der Herr ist gnädig und barmherzig, langmütig und reich an Gnade.“ (Ps 145,8, vgl. 111,4); „Der Herr ist gnädig und gerecht, unser Gott ist barmherzig.« (Ps 116,5) Dies bezeugt sich auch im Neuen Testament, wenn Paulus den Zweiten Brief an die Korinther mit den Worten beginnt: „Gepriesen sei der Gott und Vater Jesu Christi, unseres Herrn, der Vater des Erbarmens und der Gott allen Trostes.“ (2 Kor 1,3) Die Barmherzigkeit Gottes konkretisiert sich vor allem in der Vergebung der Schuld, sie gewährt Schutz und Leben. Der Mensch wird nicht in einer missglückten Vergangenheit eingesperrt. Gott befreit ihn vielmehr durch Vergebung zu einem neuen Leben in die Zukunft hinein.

So will Gott auch Barmherzigkeit, Recht und Güte für die Menschen (vgl. Hos 6,6; 12,7, Sach 7,9). Vor allem ist die von Gott geforderte helfende Tat gegenüber dem notleidenden Menschen gemeint. Der Barmherzige Samariter (vgl. Lk 10,37) ist zum unübertrefflichen Symbol geworden. In der Auseinandersetzung mit den Pharisäern fordert Jesus (im Anschluss an Hos 6,6) Barmherzigkeit, nicht Opfer. Gott schenkt Barmherzigkeit in souveräner Freiheit. Er ist durch nichts gezwungen. Ein Höhepunkt der biblischen Verkündigung vom barmherzigen Gott ist das Gleichnis vom Verlorenen Sohn (vgl. Lk 15,11-32). Zur Barmherzigkeit gehört das durch nichts geschuldete Entgegenkommen, so wie der Vater dem verlorenen Sohn, den er schon von ferne sieht, Mitleid zuwendet (vgl. 15,20).

Wir haben über das Erbarmen Gottes von dem verstorbenen Papst Johannes Paul II. ein hervorragendes Dokument, nämlich seine zweite Enzyklika vom 30. November 1980 Dives in misericordia (vgl. die Ausgabe „Der bedrohte Mensch und die Kraft des Erbarmens“. Revidierte deutsche Übersetzung und Kommentar von K. Lehmann, Freiburg i. Br. 1981). Es wäre zu wünschen, dass die Kirche sich dieses Weltrundschreiben noch viel mehr zu Eigen macht, so wie der Papst ja auch am ersten Sonntag nach Ostern einen „Tag der göttlichen Barmherzigkeit“ in der Kirche eingeführt hat (nebenbei gesagt: in der Nacht zu diesem Tag ist er auch gestorben). Dabei kommt Johannes Paul II. auch auf das Verhältnis von Gerechtigkeit und Erbarmen zurück. Liebe und Erbarmen gibt es nicht ohne den Willen zur Gerechtigkeit. Aber die Gerechtigkeit im Sinne einer bloßen Gleichmachung allein macht das menschliche Leben noch nicht menschlich. Programme der Gerechtigkeit haben nämlich auch zu viel Feindseligkeit, Hass und Grausamkeit geführt. Trotzdem besteht kein Widerspruch zwischen der Gerechtigkeit und dem Erbarmen. „An keiner Stelle der Frohen Botschaft bedeutet das Verzeihen, noch seine Quelle, das Erbarmen, ein Kapitulieren vor dem Bösen, dem Ärgernis, vor der erlittenen Schädigung oder Beleidigung. In jedem Fall sind Wiedergutmachung des Bösen und des Ärgernisses, Behebung des Schadens, Genugtuung für die Beleidigung, Bedingungen der Vergebung.“ (Nr. 14, vgl. auch Nr. 4 der genannten Enzyklika) Die Gerechtigkeit braucht noch eine tiefere Kraft um das menschliche Leben zu prägen. Die Gerechtigkeit verdankt sich in ihrem Wesen noch tieferen Quellen des Geistes. Dies zeigt sich vor allem in den zwischenmenschlichen Beziehungen. „Eine Welt ohne Verzeihen wäre eine Welt kalter und ehrfurchtsloser Gerechtigkeit, in deren Namen jeder dem anderen gegenüber nur seine Rechte einfordert.“ (Nr. 14) Die Welt kann nur dann menschlicher werden, wie es Gaudium et spes fordert, „wenn wir in den vielgestaltigen Bereich der zwischenmenschlichen und sozialen Beziehungen zugleich mit der Gerechtigkeit jene ,erbarmende Liebe' hineintragen, welche die messianische Botschaft des Evangeliums ausmacht“ (Nr. 14 und GS 40). Jesus Christus selbst hat in seinem Leben und Sterben das Gegeneinander von Gerechtigkeit und Erbarmen aufgehoben. Beide haben ihren Ursprung und ihre Erfüllung in der Liebe. Darum gibt auch das Erbarmen der Gerechtigkeit eine neue Gestalt.

Für unsere Welt sind dies zunächst fremde Gedanken. Es ist nicht zufällig, dass man sich auch im germanischen Bereich schwer tat mit der Forderung nach „Barmherzigkeit“. Aber es schafft eben eine tiefere Erfassung der Würde der menschlichen Person. Das Erbarmen ruft eine neue und dauerhafte Form der „Gleichheit“ hervor. Die zwischenmenschlichen Beziehungen werden durch die sich erbarmende Liebe immer wieder gereinigt. Indem die Barmherzigkeit und das Mitleid an das Leiden und den Schmerz der Menschheit erinnern, werden wir auch in eine neue kreatürliche Solidarität hineingenommen. So lebt auch mancher revolutionäre Eingriff aus der Kraft des Mitleids, der Synthese von Kopf und Herz, Vernunft und Leidenschaft, aber leider ist sie ohne die Nachfolge Jesu Christi in der Gefahr der Entfremdung.

Barmherzigkeit und Erbarmen sind auch eine wichtige Klammer zwischen der Soziallehre der Kirche und der Heilsbotschaft. Sie zeugt von der letzten inneren Kraft des Evangeliums und der Kirche. Das so verstandene Erbarmen kann die Welt am tiefsten aus den Angeln heben. Die sich erbarmende Liebe ist die stärkste revolutionäre Kraft der Welt. Es enthält ein explosives spirituelles Potenzial zur Veränderung der zwischenmenschlichen Beziehungen und auch der gesellschaftlich-politischen Strukturen. So kann man das Gewicht des Jesuswortes ermessen: „Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!“ (Lk 6,36)

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