| Pressemeldung

Predigt des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, Mainz, im Eröffnungsgottesdienst anlässlich der Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am Montag, 10. März 2003, im Hohen Dom in Freising

Predigttext ist die Lesung: 1 Kor 12,31b - 13,13
Wir haben bei dieser Frühjahrs-Vollversammlung vom 10.-13. März in Freising nicht wenige Themen, die mit dem Zeugnis der Kirche für die Nächstenliebe zusammenhängen. Dies ist in ganz verschiedener Weise bei einer Reihe von Themen erkennbar, wie z. B. bei der Sorge für die behinderten Mitmenschen und der Solidarität mit den Kranken, gewiss auch bei der Seelsorge an Katholiken anderer Muttersprache und beim Aufruf zum Teilen unserer Lebenschancen mit den Menschen in der Dritten Welt, wie wir es gerade in diesen Tagen bei der Misereor-Aktion mit Hilfe des Leitwortes "Wem gehört die Welt?" wiederum versuchen. Vor allem aber werden wir einen ganzen Tag dem Thema "Caritas als Lebensäußerung der Kirche und als Verband" widmen. Ein Studientag soll zwar auch praktische Anregungen geben, aber in erster Linie geht es um eine grundlegende Besinnung, die nicht unmittelbar unter dem Druck einzelner Probleme stehen soll.
Deshalb habe ich einen Text zur Lesung und zur Predigt gewählt, der uns im Blick auf diese Themen - die Krise um den Irak selbstverständlich eingeschlossen - zu einer prinzipiellen Einstimmung helfen kann. Es ist das so genannte "Hohelied der Liebe", das zweifellos eines der am meisten beeindruckenden Stücke in der Bibel, jedenfalls im Neuen Testament ist. Paulus setzt sich mit den Geistesgaben und ihrer Bedeutung für das Leben der Christen auseinander (vgl. 1 Kor 12,1-14,40). Es gibt Leute damals im Korinth und auch bei uns heute, die sich auf besondere Gaben des Geistes berufen und sich ganz außerordentlich begabt vorkommen. Sie verachten oft die Fähigkeiten anderer. Eine besonders hervorstechende Gabe, die uns freilich fremd geworden ist, ist dabei die Zungenrede. Paulus zeigt, wie der eine Geist den Reichtum der vielen Gaben, die sich freilich in ein Ganzes einordnen müssen, gewährleistet, und bringt dazu auch den einsichtigen Vergleich der vielen Glieder am einen Leib (vgl. 12,12 ff.). So ruft er uns zu: "Ihr aber seid der Leib Christi, und jeder Einzelne ist ein Glied an ihm." (12,27) Nicht alle können alles.
In diesem Zusammenhang zeigt uns nun Paulus, wie er sagt, "noch einen anderen Weg, einen, der alles übersteigt" (12,31b). Wenn es nun um die Liebe geht, dann will Paulus in gewisser Weise eine weitere wichtige Gabe des Geistes hinzufügen, aber noch wichtiger ist die Aufgabe dieses Hohen Liedes, nämlich ein Kriterium für alle Gaben, auch für die Höheren aufzustellen. Es ist ein theologisches Vorzeichen und ein Korrektiv für alles, was bisher gesagt worden ist und später noch entfaltet wird. Unschwer sind in diesem eindrucksvollen, aber auch sehr argumentativen Text drei Teile zu erkennen: die Höherwertigkeit der Liebe im Vergleich zu den Charismen (VV 1-3), das Wesen der Liebe (4-7) und ihre Unvergänglichkeit (8-13). Wir können nicht diesen ganzen Text auslegen. Er ist überreich. Am Beispiel von Glaube, Hoffnung und Liebe kann man einen "Grundriss des christlichen Lebensvollzuges" darlegen, wie es Heinrich Schlier vor gut 30 Jahren getan hat ("Nun aber bleiben diese Drei", Einsiedeln 1971).
Wir zögern ein wenig, so rasch das Wort von der Liebe an dieser Stelle in den Mund zu nehmen. Wie schnell berufen wir uns auf sie! Wie entstellt und verbraucht erscheint sie in unserer Gesellschaft, auch wenn sie zugleich das Höchste für den Menschen zum Ausdruck bringt. Paulus weiß offenbar darum, denn er gebraucht im Wort "Agape" ein damals äußerst seltenes Wort. Man spricht eher von Eros und Philia. Überhaupt ist es wichtig zu sehen, dass Paulus uns zuerst sagt, was die Liebe nicht ist. Besonders einer geheimnisvollen Wirklichkeit nähern wir uns oft dadurch an, dass wir sagen, was sie nicht ist. Ähnlich ist es ja mit den Wegen des Denkens zu Gott. Auf ein paar positive Aussagen folgen acht negative. Am Schluss kommen nochmals vier positive Eigenschaften zur Sprache, die durch das vierfache "alles" kräftig betont werden. Zuerst wird der Widerspruch angemeldet gegen alle gemeinschaftsfeindlichen und zerstörerischen Gestalten, die sich oft mit dem Wort Liebe schmücken. Paulus wendet sich gegen eine Überhöhung allein des Individuums. Zugleich macht er die ganze Fülle und Grenzenlosigkeit der Gestalten von Liebe offenkundig. "Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig, sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit." Die Liebe und die Wahrheit gehören ebenso untrennbar zusammen wie die Liebe und die Gerechtigkeit. Beide werden durch die Liebe nicht ausgelöscht oder geschmälert, sondern aufgenommen und gesteigert. Man darf die Wahrheit nicht um der Liebe willen, die Liebe nicht um der Wahrheit willen antasten. Liebe deckt nicht einfach Unrecht zu, wenn sie z. B. verzeiht, aber sie verwischt auch nicht die Grenze zwischen Recht und Unrecht.
Es folgen einige atemberaubende Sätze mit dem abschließenden, viermaligen "alles". "Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand." Dies ist keine übertriebene fromme Redeweise. Mit ganzer Wucht wird das offenbar unerschöpfliche Potenzial der Liebe verkündigt. Das kleine Wort "alles" zeigt die Schwächen dessen, was wir oft Liebe nennen. Es geht dabei um das standhafte Ausharren in negativen Erfahrungen, die von anderen ausgehen. Die Liebe läuft auch dem anderen nicht davon, wenn er zur Belastung wird. Dies alles ist aber nur möglich, wenn man sieht, wie sehr diese Liebe vom Evangelium Jesu Christi her kommt und den Anbruch einer ganz neuen Wirklichkeit mitten in unserer alten Welt darstellt.
Wir sind ein bisschen vorausgeeilt und haben die ersten drei Verse übergangen. Es sind Bedingungssätze, die uns einhämmern: Wenn ich das und das tue, aber keine Liebe habe, bin ich nichts. Dabei steigert Paulus diese Wucht der Sätze. Es ist ja noch verständlich, was er über die Zungenrede und die prophetische Rede sagt, obgleich es schon eine ganz schöne Zumutung ist: "Wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts." Aber nun wird nicht nur die Nichtsnutzigkeit von Prophetie und Mysterienwissen ohne Liebe dargelegt - jetzt kommt Paulus auf Handlungen zu sprechen, die normalerweise ausschließlich mit Liebe geradezu identifiziert werden. Also gibt es offenbar Liebe ohne Liebe. Es folgt ein atemberaubender Satz: "Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte, und wenn ich meinen Leib dem Feuer übergäbe, hätte aber die Liebe nicht, nützt es mir nicht." Alles kann auch noch Ausdruck unfrommer Ich-Bindung und bloßer Selbstbespiegelung sein. Die Psychotherapie hat uns ja die eigenen Abgründe im Menschen erschlossen. Die Liebe verleiblicht sich in konkreten Zeichen, aber es gibt keine untrüglichen Beweise für sie. Dennoch sind Erkennungszeichen notwendig.
Wenn man dies alles auf sich wirken lässt, wird man vorsichtig mit einem inflationären Wortgebrauch von Liebe. Kann man dann überhaupt noch wagen, das Wort in den Mund zu nehmen? Doch, Paulus gelingt es trotz dieser vieler Einschränkungen, das "Hohe Lied der Liebe" zu singen. Erst wenn man durch das ganze Feuer der Verneinungen, was die Liebe nämlich nicht ist, hindurch gegangen ist, zeigt sich gegenüber allen anderen Geistesgaben das Einmalige der Liebe: "Die Liebe hört niemals auf ... für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese Drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe." Glaube, Hoffnung und Liebe markieren den Anbruch der neuen Welt Gottes in unserer Wirklichkeit.
Paulus ist ungemein kühn: Da ist mitten in aller Vorläufigkeit und Vergänglichkeit, Zerbrechlichkeit und Fäulnis doch etwas, was nicht einfach untergeht. Wenn wir wirklich Liebe üben, bleibt mitten in unserer Geschichte ein Keim der Ewigkeit. Es ist nicht alles umsonst und zerrinnt und zerfällt wieder in Nichts. Gibt es irgendwo ein stärkeres, mächtigeres Motiv für das Handeln der Christen? Dabei wird die Liebe nicht vom Glauben und von der Hoffnung isoliert. Aber sie hat, wenn sie ausgeübt wird für Zeit und Ewigkeit, etwas einzigartiges. Danach müssen wir unser alltägliches Tun, aber auch unsere so genannten Liebeswerke befragen und auf den Prüfstand stellen. Wir dürfen Liebe nicht mit Aktionismus verwechseln. Sie ist das Kriterium, an dem Kirche und Christsein gemessen werden. Also wissen wir, was wir in diesen Tagen, aber auch sonst in unserem Tun zu beachten haben. Es ist wirklich ein anderer Welt, der alles übersteigt. Amen.

Cookie Einstellungen

Wir verwenden Statistik Cookies um zu verstehen, wie Sie mit unserer Webseite interagieren.

Anbieter:

Google

Datenschutz

Matomo

Datenschutz

Diese Cookies sind für den Betrieb der Webseite zwingend erforderlich. Hier werden bspw. Ihre Cookie Einstellungen gespeichert.

Anbieter:

Deutsche Bischofskonferenz

Datenschutz