| Pressemeldung

Predigt des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, im Eröffnungsgottesdienst der Frühjahrs-Vollversammlung am 18. Februar 2002 in der Konkathedrale St. Eberhard in Stuttgart

Zugänge zum menschlichen Leben

Die Diskussion um den Anfang und das Ende des Lebens ist heute in hohem Maß von wissenschaftlichen Erkenntnissen bestimmt. Unser Wissen ist im Bereich des Geheimnisses des Lebens riesig gewachsen.

Wir können eigentlich nur dankbar sein für die Erkenntnisse, die wir oft mit atemberaubender Geschwindigkeit neu gewinnen dürfen. Der Glaubende hat keine Angst vor diesem Wissenszuwachs. Im Gegenteil, die moderne Wissenschaft ist vor dem Hintergrund des biblischen Glaubens entstanden, der die Welt zu einer nüchternen Betrachtung freigegeben hat. Nichtwissen wird nicht glorifiziert. Das Wissen kann den Glauben gewiss erhellen, aber nicht eigentlich aushöhlen und ausschöpfen.

Gerade die Entdeckungen der Medizin vertiefen das Bild und das Geheimnis des Menschen. Mit ganz einfachen Hinweisen beginnt dies. Was für eine unglaubliche Leistung vollbringt unser Herz, wenn es pro Tag ungefähr 100.000mal schlägt, und dies oft ein langes Leben lang! Was für ein Wunderwerk ist die Biochemie unserer Stoffwechselvorgänge, ohne die wir nicht lange existieren könnten! Erst recht haben wir in den letzten Jahrzehnten einen faszinierenden Einblick erhalten in das vorgeburtliche Werden eines Menschen von der Befruchtung bis zum sichtbaren Eintreten in die Menschenwelt. Gerade in den letzten Jahren haben wir dank neuer technischer Möglichkeiten staunenerregende Einsichten in die Entwicklung menschlichen Lebens erhalten. Nicht zufällig fällt einem das Wort vom wunderbaren Weg ins Lebens ein.

Manchmal mögen uns die Erinnerung und die Berufung auf das Faszinierende dieser Entwicklung naiv vorkommen. Es sieht fast so aus, als ob das Staunen nur solange Bestand hätte, wie wir Unwissende sind. Wer wirklich gerade im modernen Sinne alles transparent machen kann, scheint endgültig durch diesen Vorhof bloßen Staunens hindurchgegangen und zur aufgeklärten Erkenntnis gelangt zu sein.

Aber ist es wirklich so? Je mehr wir wissen, umso mehr zeigen sich auch bei aller Faszination durch unsere Erkenntnisse die Abgründe, die wir noch nicht ausgelotet haben. Darum sind gerade auch die großen Forscher des Weltalls und des Lebens bei allem Stolz im Blick auf ihre Entdeckungen demütige Menschen. Dabei geht es nicht nur um einen bald aufzuarbeitenden Rest des Nichtwissens, sondern um die Einsicht, dass wir mitten in aller Aufklärung vom Geheimnis unserer Welt und des Menschen umgeben bleiben und uns stets die Fragen verfolgen, jedenfalls solange wir Menschen sind: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?

Jede wahre Forschung ist zunächst einmal unverzweckte Theorie. Gerade Grundlagenforschung ist für alle Wege offen, muss vieles ohne unmittelbare Erfolgsaussicht erproben, tappt oft lange im Dunkeln und kann darum eigentlich nicht verzweckt werden. Umso größer ist die Freude über einen wirklichen Fund. Bei unseren heutigen Problemstellungen vor allem in der Biotechnik rücken jedoch Forschung und Anwendung ganz nahe zusammen. Es ist nur zu begrüßen, wenn aus der Theorie praktische Folgerungen gezogen werden können. Dies gilt besonders, wenn sie kranken und behinderten Menschen, aber auch einer hungernden Menschheit zugute kommen. Ob dies gelingt, weiß man freilich nicht von vornherein. Gerade hier lauert nämlich die Gefahr, dass wir alles auf Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit hin untersuchen und dass wir diesem Interesse alles unterordnen. Erst recht riskant wird ein solcher Zugang zur Wirklichkeit, wenn auch die ökonomische Verwertung und Vermarktung ins Spiel kommen. Wirtschaftliche Interessen sind an sich noch nicht tadelnswert, aber sie müssen öffentlich transparent sein und auf ihre ethische Tragfähigkeit hin kontrollierbar bleiben. Dies gehört im übrigen auch zum rechten Verständnis der Forschungsfreiheit, denn diese muss ja von vornherein ihre Grenzen in der Würde und darum auch Unantastbarkeit vor allem des menschlichen Lebens erkennen und besonders in der Praxis anerkennen.

An dieser Stelle überkommen uns heute Bedenken. Wie gehen wir um mit dem winzigen, noch unscheinbaren Leben der ersten Stunden und Tage? Wie kommt man zur Rede, alles sei nur ein „Zellhaufen"? Die Zweifel mehren sich. Gewiss schaut uns die erste geklonte Hauskatze süß und lieblich entgegen. Sie heißt freilich nur CC–- also Copy-Cat. Und welche Opfer stehen hinter Dolly und CC? Wie viele Experimente mit schrecklichen Resultaten, Chimären und Tumoren waren wahrscheinlich notwendig – und wir kennen sie überhaupt nicht! Wir wollen nicht den Teufel an die Wand malen, aber wir müssen auch nüchtern und kritisch in die reale Welt hineinschauen. Lebewesen, Tiere und Embryos, dürfen nicht zum Steinbruch der Wissenschaft werden. Das Elementare des Lebens darf nicht ein Partikel oder ein Anhängsel des Fortschritts sein. Wir dürfen niemals vergessen, auch und gerade nicht in den Labors, dass jedes Lebewesen als solches ein Subjekt ist und darum Schutz verdient. Ganz gewiss darf es gerade deshalb nicht nur als Objekt verdoppelt, verbraucht und schließlich umgebracht werden. Wenn wir dies nicht beachten, werden wir am Ende selbst ein Opfer bloßen Strebens nach Zweckmäßigkeit. Und dann erliegen wir irgendwann auch einmal einem skrupellosen Machbarkeitswahn, selbst wenn viel von Ethik geredet wird und sogar überall Ethikkommissionen errichtet werden.

So muss es nicht kommen. Diese verheerenden Folgen ergeben sich nicht automatisch. Aber ein spezialistisches Wissen, das nicht in größeren Zusammenhängen denkt und im Sinne sensiblen Umgangs mit Leben fühlt, kann leicht irre gehen, wenn es der ethischen Reflexion und Kontrolle entgleitet oder sich ihnen erst gar nicht stellt. Darum haben unsere Politiker eine sehr hohe Verantwortung, wenn sie für die biotechnischen Methoden und Verfahren Normen aufstellen müssen, die vor allem auch und zuerst mit der Menschenwürde übereinstimmen müssen. Die Kirchen werden als Anwalt des Lebens und besonders des Menschen wachsam bleiben.

Wir haben andere Zugänge zu Natur und Kreatur heute vielfach vergessen. Wir bemächtigen uns anderer Lebewesen, wir beherrschen und verbrauchen sie gnadenlos. Hier feiert pure Fortschrittlichkeit späte und im Grunde schon überholte Siege. Wenig ist die Rede vom Schonen und Bewahren, die heute nicht minder zur Verantwortung des Menschen gehören, besonders im Blick auf die Zukunft des Lebens auf unserer Erde. Darum ist es eben nicht ein lächerliches archaisches Empfinden, wenn wir hier an andere Zugangsweisen erinnern, die heute im Zeichen einer fast grenzenlos erscheinenden Machbarkeit eher verschüttet sind: Ehrfurcht, Faszination, Staunen und Freude gegenüber dem Leben. Dies ist nicht möglich ohne Achtung gegenüber dem Anderen, das in sich selbst steht und als Leben sich auch selbst bewegt. Der wahre Forscher wird das Wunderbare und auch das Geheimnisvolle des Lebens nicht einfach hinter sich zurücklassen. Wenn er dies täte, wäre er zwar vielleicht ein kompetenter Experte, aber er wäre ohne Bildung. Nur wenn wir das Wunder und das Geheimnis des Lebens achten, wird die Wissenschaft den Menschen auch wirklich dienen. Im übrigen haben schon die Alten gewusst, dass Staunen und Wissen keinen falschen Gegensatz bilden. Thomas von Aquin sagt schlicht: „Das Staunen ist eine Sehnsucht nach Wissen" (vgl . S.th. I–II, qu 32, art. 8).

Wie wichtig ist dieser Gedanke, wenn wir von Stammzellen-Import, Präimplantationsdiagnostik und Gentests für Arbeitnehmer und Versicherungen, erst recht vom Klonen reden. Darum werden wir als Kirche und als Christen nicht aufhören, vom Menschsein von Anfang an zu sprechen, nicht minder von der Menschenwürde. Wir sind überzeugt, dass dies auch auf den Wegen menschlicher Vernunft erkannt werden kann, aber vielleicht nur im Glauben eine letzte Gewissheit findet. Diese Gewissheit ist in Zeiten, die manche gerne als dunkel und unaufgeklärt empfinden, mit großer Weisheit entdeckt und festgehalten worden. So heißt es schon im alten Bund: „Kinder sind eine Gabe des Herrn, die Frucht des Leibes ist sein Geschenk." (Ps 127, 3) Was man mit Recht Gottesfurcht nennt und viel mit der Achtung des Gewissens zu tun hat, gehört untrennbar zusammen mit der Freude über das Wunder des Lebens und mündet fast schon von selbst in Dank und Jubel: „Ich danke dir, dass du mich so wunderbar gestaltet hast. Ich weiß: Staunenswert sind deine Werke!" (Ps 139, 14) Erst wenn wir dies alles selbstkritisch beachten, gewinnen wir ein Maß für wahren, menschlichen Fortschritt.

Amen.

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