| Pressemeldung | Nr. 034

Predigt des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Dr. Robert Zollitsch, im Eröffnungsgottesdienst zur Frühjahrs-Vollversammlung 2014 in Münster

Herr, wann haben wir dich gesehen?

 

Liebe Mitbrüder im bischöflichen, priesterlichen und diakonalen Dienst, Schwestern und Brüder in der Gemeinschaft des Glaubens!

Es sind markante Gegensätze, die die Perikope des heutigen Evangeliums kennzeichnen; es sind starke Kontraste, die Spannung erzeugen und bei uns hängen bleiben: Die Gegenüberstellung von „Schafen und Böcken“, die Unterscheidung in „links und rechts“, die Trennung zwischen „Gerechten und Verfluchten“. Die Grenzen sind klar, die Einteilung deutlich. So wünschen wir uns dies bisweilen – gerade angesichts einer pluralen Gesellschaft und komplexer Zusammenhänge. In einer globalisierten Welt scheint es jedoch immer schwerer zu werden, trennscharf zu unterscheiden zwischen links und rechts, richtig und falsch, erforderlichem Wandel und notwendiger Beständigkeit. Die Unterschiede liegen manchmal ganz dicht beieinander.

Auch die Gegensätze im heutigen Tagesevangelium, liebe Schwestern, liebe Brüder, verbindet – beim genaueren Betrachten – eine geradezu verblüffende Gemeinsamkeit. Die Gerechten wie die Verfluchten fragen voll Erstaunen: „Herr, wann haben wir dich gesehen?“ Die Einen sind enttäuscht, dass Sie nicht sensibel genug waren für die Begegnung mit Jesus. Die Anderen sind überrascht, dass sie ihn gesehen und es doch nicht gemerkt haben. Es ist die urmenschliche Frage nach der Erfahrung von Gott, nach der Wahrnehmungsfähigkeit für sein Wirken in unserer Welt.

„Herr, wann haben wir dich gesehen?“ – in dieser Frage spiegelt sich auch das Suchen der Menschen heute in unserem Land. Und bei dieser Suche, die über den Tag und das rein Innerweltliche hinausreicht, ist es uns als Kirche aufgetragen, die Menschen zu begleiten. Das stellt uns gerade auch als Bischöfe, die wir für die Pastoral Verantwortung tragen, vor neue Herausforderungen und braucht eine hohe Sensibilität für die Zeichen der Zeit. Das Spektrum der Sinnsuchenden ist breit gefächert. Viele sind mit der traditionellen Sprache und den gewachsenen Symbolen unseres christlichen Glaubens nicht mehr vertraut. Der tschechische Professor und Priester Tomas Halík spricht in diesem Zusammenhang von „religiösem Analphabetismus“ und einem „weitverbreiteten Etwasismus“. Die Menschen glauben an „Etwas“, an eine „Kraft von oben“, an irgendetwas Höheres, aber nicht unbedingt an einen personal verstandenen Gott. Auch diese Menschen sind die Adressaten der Botschaft des Evangeliums in unserer Zeit. Denn damit der Glaube nicht zur Ideologie wird, sind wir herausgefordert, mit den Suchenden auf der Suche zu sein. Das wird uns umso mehr gelingen, liebe Schwestern und Brüder, wie wir selbst uns darauf einlassen können, Suchende zu bleiben und die Fragen der Suchenden aufzunehmen. Das heißt auch: nicht schon alles von vorneherein immer wissen zu wollen, sondern bereit zu sein, durch die Menschen unserer Tage Gott zu begegnen und durch sie etwas Neues von ihm zu erfahren. Es heißt: Nicht zuerst Erwartungen zu formulieren, sondern Wege mitzugehen und bereit zu sein, auch manchen Umweg in Kauf zu nehmen. Schon Jesus fordert uns dazu auf, wenn er sagt: „Wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm.“ (Mt 5,41) Die Suchenden unserer Tage auf diese Weise zu begleiten und mit ihnen auf dem Weg zu sein, das ist unsere herausfordernde und anspruchsvolle Aufgabe. Dazu ist die Mäeutik des Sokrates, die Hebammenkunst, neu gefordert. Es gilt – ob wir uns hauptberuflich, nebenamtlich oder ehrenamtlich engagieren –, den Menschen zu helfen, das eigene Leben im Licht des Evangeliums zu sehen, Gottes Spuren im Leben zu entdecken und zu deuten. Dann wird deutlich: Christsein endet nicht an der Kirchtüre und ist nicht auf den Sonntag beschränkt, sondern der Glaube gehört mitten hinein in den Alltag.

„Herr, wann haben wir dich gesehen?“ Darauf gab und gibt es nicht eine einzige Antwort. Vielmehr braucht es die ganze Weite des Katholischen, ohne den Glauben damit zu relativieren. Davor warnt Professor Halík eindringlich, wenn er sagt: „Eine religiöse Gemeinschaft, die nur mit den Hundertprozentigen rechnet, ist eine Sekte.“ Das wollen und dürfen wir nicht sein, wenn wir Jesu Auftrag ernst nehmen, das Evangelium bis an die Enden der Erde und an die Grenzen menschlicher Existenz zu tragen.

Und wenn wir ehrlich sind, spüren wir, dass wir selbst ein Leben lang die Frage immer wieder neu stellen: „Herr, wann haben wir dich gesehen?“ Unser eigener Glaube gleicht doch einem Drahtseilakt zwischen beiden Erfahrungen: Erstaunen, dass wir Gott, trotz intensiver Suche, nicht erkannt haben – und Überraschung, dass wir Gott begegnet sind, obwohl wir gar nicht mit ihm rechneten. Liebe Schwestern, liebe Brüder, Jesus gibt uns mit den Worten des Weltgerichts das entscheidende Kriterium an die Hand, worauf es ankommt: Nicht zuerst die Worte sind entscheidend, vielmehr kommt es auf unser Tun an; darauf, wie wir leben und mit unseren Mitmenschen umgehen. Das Maß ist die Liebe! Das heißt, die Barmherzigkeit Gottes weiter schenken, mit der uns Gott immer schon liebt. Das ist auch die entscheidende Antwort auf die Frage, die über dem Projektwettbewerb zum 750-jährigen Domjubiläum hier im Bistum Münster steht: „Was macht unsere Welt besser?“ Jesus selbst liefert uns eine Idee vom Paradies.

„Herr, wann haben wir dich gesehen?“ Die Antwort des Evangeliums ist klar: Da wo wir uns dem Nächsten zuwenden. Wie viel gibt es gerade in unserer Zeit hier zu tun! Es ist in unserer Gesellschaft tief verankert, dass wir dazu neigen, zuerst nach dem Staat zu rufen, der helfen soll und Geld zu geben habe, damit die Armut beseitigt werden kann. Es ist richtig, dass von staatlicher Seite alles getan werden muss, damit Armut im Keim erstickt werden kann und die Menschen bei uns ein menschenwürdiges Leben führen können. Wir sind aber immer auch nach dem gefragt, was wir selbst tun, um die Not der Menschen zu lindern. Wir dürfen nicht übersehen, dass es neben der materiellen Not vor allem große seelische Not gibt. Kinder, die unter der Trennung ihrer Eltern leiden; Erwachsene, die am Arbeitsplatz unter Druck gesetzt oder gemobbt werden; ältere und kranke Menschen, die ohne soziale Kontakte leben oder meinen, Anderen zur Last zu fallen und so ihrem Leben ein Ende setzen zu müssen. Da ist es wichtig, dass wir im Namen Jesu an der Seite dieser Menschen stehen und für sie da sind, ihre Würde verteidigen, die ihnen oft genug genommen wird. Diese Solidarität mit Anderen reicht über die Grenzen unseres Landes hinaus. Deshalb beschäftigen wir uns bei unserem diesjährigen Studientag mit der Lage der Religionsfreiheit. Denn wo es keinen Respekt gibt vor der Religion des Anderen, wird es keinen Frieden geben, dort kann keine dauerhafte Ordnung entstehen. Darum müssen wir uns weltweit für Religionsfreiheit einsetzen im Wissen darum, dass vor Gott alle Menschen gleich sind. Mehr noch: Dass wir im Mitmenschen Gott begegnen können.

So ermutigt uns Papst Franziskus in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium: „Jedes Mal wenn wir einem Menschen in Liebe begegnen, werden wir fähig, etwas Neues von Gott zu entdecken. Jedes Mal wenn wir unsere Augen öffnen, um den anderen zu erkennen, wird unser Glaube weiter erleuchtet, um Gott zu erkennen. Infolgedessen können wir, wenn wir im geistlichen Leben wachsen wollen, nicht darauf verzichten, missionarisch zu sein. Die Aufgabe der Evangelisierung bereichert Herz und Sinn, eröffnet uns geistliche Horizonte, macht uns empfänglicher, um das Wirken des Heiligen Geistes zu erkennen, und führt uns aus unseren engen geistlichen Schablonen heraus!“

Liebe Schwestern, liebe Brüder! Zweifellos brauchen wir diese Offenheit für den Heiligen Geist, der uns aus unseren engen geistlichen Schablonen herausführen will. Wir verwenden viel Zeit und Energie dafür, den rechten Weg der Kirche in die Zukunft zu finden. Jede und jeder Einzelne hat Vorstellungen davon, was in der Kirche verändert werden sollte, was wir uns anders wünschen und was wir an Reformen für notwendig halten. Doch wird diese Suche bisweilen nicht auch zur Versuchung, um uns selbst zu kreisen und unsere Überlegungen in reinen Arbeitssitzungen wie auf Parteitagen zu verhandeln und dabei die Frage zu vernachlässigen: Herr, wo willst du uns begegnen? Drängen wir den Austausch über unsere Erfahrungen mit Gott, auch über unsere Fragen und Zweifel, nicht so manches Mal zu sehr an den Rand? Laufen wir in einer Mediengesellschaft nicht manchmal Gefahr, eher zu fragen, wann wurde ich gesehen? Wo kam meine Position groß raus und gut an? Dann werden unsere eigenen Vorstellungen und Wünsche zum Maßstab für die Kirche Gottes. Es gilt, den Blick zu weiten, unsere Fragen und Sorgen ins Gebet zu nehmen und vor Gott zu tragen. Das öffnet den Horizont und bewahrt uns davor, das Trennende und Hemmende zuerst zu nennen; das Jammern und Klagen in den Vordergrund zu stellen. Es bewahrt uns davor, bei uns stehen zu bleiben, uns selbst und unsere Vorstellungen absolut zu setzen. Der Geist Gottes ist es, der Perspektiven öffnet und neue Wege ermöglicht, die unsere eigenen Vorstellungen übersteigen.

„Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Damit sagt uns Jesus in aller Deutlichkeit: Wir können uns als Christen nicht in eine himmlische Kuschelecke zurückziehen und uns allein auf die Verbindung zu Gott beschränken – so wichtig diese ist. Was wir brauchen, ist immer auch die Verbindung zur Erde und zu den Menschen – ohne den Bezug zu Gott und zum Himmel zu verlieren! Denn die Welt braucht nicht die Verdoppelung ihrer eigenen Hoffnungslosigkeit, wie es schon die Würzburger Synode formuliert hat; sie braucht eine Perspektive, die Hoffnung gibt und weiter führt!

Das heißt: Machen wir einander Mut! Bestärken wir uns in der Hoffnung, „die uns das Evangelium schenkt“ (vgl. Kol 1,23). Weiten wir unseren Blick, indem wir Gott immer wieder neu „ins Spiel bringen“. Joseph Kardinal Höffner, der 1962 bis 1969 hier in Münster Bischof war und an den eine Gedenktafel hier im Dom erinnert, sagte bereits 1978 auf dem Katholikentag in Freiburg: „Fehlt das Zeugnis der Christen, so dringen in das Bewusstsein der Menschen und in die geistigen Nischen der modernen Zivilisation andere Kräfte ein [...]. Es gilt, nicht nur abzuwarten, Wirkungen nachzulaufen, zu bewahren, sondern offensiv und konstruktiv neue Ursachen zu setzen.“  Offensiv und konstruktiv dürfen wir unseren Glauben bekennen – mitten in unserem Alltag! Unser Glaube läuft nicht an der Welt vorbei, sondern führt uns mitten in die Welt hinein. Mitten im Alltag, in jeder Begegnung mit einem Menschen dürfen wir damit rechnen, Jesus Christus selbst zu begegnen. Amen.

Lesung: Lev 19,1-2.11-18
Evangelium: Mt 25,31-46

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