| Pressemeldung

Predigt des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Karl Lehmann, im Pontifikalamt zur Eröffnung der Frühjahrs-Vollversammlung am Montag, 22.02.1999 um 18.30 Uhr in der Pfarrkirche St. Bonifatius Lingen/Emsland

Fest des Tages: Kathedra Petri

Lesungen: 1 Petr 5,1-4; Mt 16,13-19


Das Evangelium von den Versuchungen Jesu Christi nach dem Matthäus-Evangelium hat uns das richtige Thema für die Österliche Bußzeit wiederum und stets doch wieder neu vor Augen gestellt. Wir Menschen sind immer wieder beeindruckt durch die Neigungen und Strebungen, die in unserem Herzen beginnen und sich als Versuchung erweisen. Der Hunger nach Reichtum, Ehre und Macht bestimmt weite Teile unseres Lebens. Wenn Jesus schon so vehement in Versuchung gebracht werden konnte, um wieviel mehr erliegen wir armen Christenmenschen immer wieder dem Sog nach Einfluß, Prestige und Besitz. Dieses Evangelium zeigt, daß Gott den Menschen kennt. Er hat das Leben in Jesus am eigenen Leib erfahren. Er zeigt uns auch, wie wir mit solchen Prüfungen umgehen müssen. Nicht unsere Intelligenz und nicht unsere innere Stärke können diese verführerischen Mächte bezwingen, sondern es ist der Gehorsam dem Wort Gottes gegenüber. Der Umgang mit dem lebendigen Evangelium ist die einzige erfolgversprechende Gegenwehr. In der Schrift heißt es nämlich: Der Mensch lebt nicht nur von Brot; du sollst den Herrn nicht auf die Probe stellen; vor dem Herrn, deinem Gott, sollst du dich niederwerfen und ihm allein dienen.

Diesen drei Versuchungen begegnet auch die seit alters zum Fasten gehörende dreifache Einübung: Leerwerden von uns selbst und unseren Götzen durch Verzicht im Fasten, Öffnung über uns hinaus auf Gott vor allem in der Zwiesprache des Gebetes, Zuwendung zum Nächsten in absichtsloser Liebe.
Österliche Bußzeit heißt, daß wir uns immer wieder nach dieser Richtung wenden und in der beständigen Umkehr ein neues Leben beginnen sollen. Wir haben in dieser Frühjahrs-Vollversammlung eine ganze Reihe von Themen, die mit diesen Grundfragen des christlichen Lebens eng zu tun haben: Ökumene und Schutz des Sonntags, Umgang mit der Sexualität besonders unter jungen Menschen, Woche für das Leben und Heiliges Jahr, Katholikentag und EXPO im Jahr 2000, Hilfe für die Nachbarkirchen in Mittel- und Osteuropa durch RENOVABIS, Gespräch mit den nicht-christlichen Religionen. Große Aufmerksamkeit erfahren auch unsere Bemühungen um die rechte Form der Schwangerschaftskonfliktberatung. Dieser Aufgabe möchte ich einige Worte zur Besinnung am Beginn unserer Bischofskonferenz widmen.

Die Sorge um das Leben des ungeborenen Kindes ist nicht, wie manche meinen mögen, eine katholische Spezialität, besonders von ehelosen Männern, sondern bewegt die Kirche schon sehr früh. Die frühen Christen heben die Gemeinsamkeit mit allen anderen Menschen im Wohnen, in der Kleidung und im Essen hervor. Vieles ist bei ihnen "normal". Es gibt aber auch "besondere" Züge: "Sie heiraten wie alle und zeugen Kinder, jedoch setzen sie die Neugeborenen nicht aus" (Der Brief an Diognet, 5,6). Die Sorge um das Leben des ungeborenen Kindes steht also nicht irgendwo am Rand, sondern gehört in die Mitte und zur Unterscheidung des Christlichen.

Dabei geht es nicht um die Verurteilung einer Frau in ihrer vielleicht verzweifelten Tat, in die sie oft hineingestoßen oder wenigstens alleingelassen wird, sondern es geht um die Anerkennung, daß hier ein himmelschreiendes Unrecht verübt wird, nämlich einem anderen Menschenwesen die elementare Voraussetzung aller Menschenwürde, nämlich das nackte Leben geraubt wird. Es gibt für alle, die hier sich versündigen, Vergebung und auch einen Neubeginn, aber nur dann wenn das, was geschehen ist, ohne Abstriche und Manipulation vor Gott als schwere Schuld bekannt wird.

Die Bibel ist aus vielen Gründen zurückhaltend mit Aussagen über das Leben des ungeborenen Kindes. Aber was gesagt wird, ist rasch auch als eine heutige ethische Herausforderung erkennbar. In jedem Kind wird Hoffnung auf Zukunft lebendig sichtbar gemacht. Wenn wir ihm schon die Eintrittskarte in unsere Welt verweigern, zerstören wir unsere eigene Zukunft. Darum ist die Annahme des Kindes so wichtig. Jedes angenommene Kind bezeugt Mut zur Zukunft und überwindet jene Daseinsangst, die unterschwellig so oft unser Leben beherrscht. Das letzte Ja zum Kind liegt jedoch allem menschlichen Planen und Machen, aber auch jedem Ablehnen und Töten voraus. Leben ist in seinem letzten Kern unverfügbar: Gott selbst sagt Ja und hütet so die letzte Personwürde eines Menschen. Unsere Identität liegt tiefer als unsere bewußte Existenz und als unser zeitliches Leben, erst recht als unser Wissen um uns selbst. Gott gibt jedem ungeborenen Kind sein Ja, seine Anerkennung und seine Würde. Die Hl. Schrift hat dies im Blick auf besonders große Männer und Frauen immer schon zum Ausdruck gebracht. Aber es gibt auch einen weniger bekannten Text, wo vom ungeborenen Kind, ja geradezu vom Embryo die Rede ist. So heißt es im Psalm 139 (13-16):

"Denn Du hast mein Inneres geschaffen,
mich gewoben im Schoß meiner Mutter.
Ich danke Dir, daß Du mich so wunderbar gestaltet hast.
Ich weiß: Staunenswert sind Deine Werke.
Als ich geformt wurde im Dunkeln,
kunstvoll gewirkt in den Tiefen der Erde,
waren meine Glieder Dir nicht verborgen.
Deine Augen sahen, wie ich entstand,
in Deinem Buch war schon alles verzeichnet;
meine Tage waren schon gebildet,
als noch keiner von ihnen da war."

Was da im Verborgenen entsteht stammt nicht nur aus den Fähigkeiten des Menschen. Gott kennt es von allem Anfang an. So muß man den entscheidenden Vers wohl umschreiben und übersetzen: Gottes Augen sahen schon die erste noch verborgene Urgestalt des Menschen im Mutterschoß. So tief gründet das Menschenleben. Darum gibt es einen letzte Würde des Menschen, die ihm nicht genommen werden kann. Gerade darum ist Gott auch in besonderer Weise der Wächter und der Schutzherr über das Leben des ungeborenen Kindes.

Dies ist keine Sondermeinung der Kirche oder der Christen. Es ist eine Wahrheit, die durch alle Wandlungen hindurch aus der vom biblischen Glauben inspirierten Humanität Europas in einen Großteil unserer Verfassungen hinübergerettet worden ist. "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt... Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit." (Art. 1, Abs. 1, Satz 1 und Art. 2, Abs. 2, Satz 1, Grundgesetz) Es ist menschenverachtend, wenn man diese Pflicht des Staates und der Gesellschaft nicht mit allen Mitteln stützt und verteidigt.

Auch unsere Gesetze wissen bei aller Unzugänglichkeit noch um den bleibenden Unrechtscharakter jeder Abtreibung. Vieles ist zwar durchlöchert und schwächlich geworden. Unsere Gesellschaft hat offenbar immer mehr an Kraft verloren, gegen alle Versuchungen gerade von Menschen in Not das Leben des ungeborenen Kindes zu schützen. Es gibt eine fast unglaubliche Unfähigkeit zur Wahrnehmung eines grenzenlosen Unrechts. Wenn man dieses Lebensrecht verteidigt, stößt man immer wieder auf taube Ohren. Es ist merkwürdig, daß wir uns - Gott sei Dank - zwar der Verletzung der Menschenwürde und der Menschenrechte neu bewußt sind und in hohem Maß gegen Verstöße protestieren. Ausgerechnet bei dem am meisten wehrlosen Subjekt, das hilflos der nackten Gewalt ausgesetzt ist, wehren wir uns paradoxerweise viel weniger. Woher kommt dieser blinde Fleck in unserer Gesellschaft? Woher kommt die Fühllosigkeit des gewalttätigen Vorgehens?

Ein Kirchenvater sagt einmal, die Anästhesie, die Unfähigkeit zur Sensibilität, sicher vor allem im Blick auf das Leid, sei die Wurzel aller Verfehlungen und der Sünde schlechthin. Ist es denn so erstaunlich, daß man ein millionenfaches Töten - wenn man einmal einige Jahrzehnte auf der Ebene unseres Landes oder pro Jahr in der Welt im Auge hat -, im Horizont der Ausrottung auch von Millionen Menschen wahrnimmt? Werden wir nicht auch von späteren Generationen, die ihren blinden Fleck an anderer Stelle haben mögen, einmal gefragt wie unsere Eltern und zum Teil auch wir: Wie konntet ihr eigentlich all dies hinnehmen? Habt ihr nichts gemerkt? Antworten wir dann auch auf die Frage Gottes an Kain: Wo ist dein Bruder? mit den Worten "Ich weiß es nicht: Bin ich der Hüter meines Bruders?" (Gen 4,9f) Aber der Herr erspart uns die Frage nicht: "Was hast du getan?"

Der Niedergang der Sensibilität für die Würde des ungeborenen Kindes darf auch uns nicht ruhig lassen. Das Recht des Schwächeren darf nicht noch unwirksamer werden. Im übrigen müssen wir damit leben, daß nicht jedes säkulare Recht auch ethisch gerechtfertigt ist. Ist unser Gewissen so schwach, daß wir diesen Unterschied nicht aushalten? Es gibt eine Verschiebung, d.h. Verschlechterung im Bewußtsein der Schutzbedürftigkeit des ungeborenen Kindes. Dabei wird es nicht bleiben. Wer am Anfang des Lebens weniger Hemmung hat, wird auch bald im Blick auf das Ende des Lebens weniger sensibel sein.

Dies ist der elementare Zusammenhang, um den es geht. Hier ist auch die Sorge der Kirche begründet, ob wir den richtigen Weg finden, um am besten Leben zu schützen. Uns quält die Frage, ob wir bei einem Versuch der Rettung dieser Kinder gegen unsere Absicht vielfältig hineingezogen werden können in eine Verstrickung des Unrechtes. Sind die Fangarme der Tötung stärker als unsere Hilfen? Haben wir aber noch genügend solidarische Nähe, wenn wir uns aus den gewiß zweideutigen Konfliktsituationen zurückziehen? Erscheint es nicht als ratlose Flucht, wenn wir die konkrete Auseinandersetzung um Leben und Tod vor Ort meiden?

Um diese Fragen geht es. Man kann sie nur von einer überzeugenden Gemeinsamkeit im Einsatz für das Leben des ungeborenen Kindes her beantworten. Hier darf es keine Sieger oder Besiegte geben, sondern Sieger kann nur das ungeborene Kind mit seiner Mutter sein, die eine einmalige Zwei-Einheit bilden. Warum wird bei uns allmählich mehr über die angebliche Mithilfe der Kirche und der Bischöfe bei der Abtreibung geredet als über die tausendfachen Hilfen in der Beratung und die vielen geglückten Rettungen? Ist hier nicht auch etwas krank geworden, das unseren Auftrag verstellt?

Meine sehr verehrten, lieben Schwestern und Brüder im Herrn, wir bitten in diesen Tagen um Ihr Gebet für unsere Beratungen und Entscheidungen. Wir bitten auch um Ihr Vertrauen in unsere Verantwortungsbereitschaft.

Wir wollen freilich auch nicht unter uns allein bleiben. Wir wissen um die Verflechtungen und Wirkungen aller Dinge gerade in der heutigen Welt. Wir wollen uns nicht trennen lassen vom Nachfolger Petri. Es ist eine gute Fügung, daß wir heute das Fest Kathedra Petri feiern. Wir brauchen den Nachfolger Petri, der die Brüder stärkt (Lk 22,32). Gerade wenn wir vielleicht selbst einen blinden Fleck oder gar einen Balken im Auge haben, wollen wir nicht unter uns bleiben, sondern uns durch Petrus, durch Johannes Paul II. herausfordern lassen. Niemand kann versuchen, uns von dieser elementaren Einheit mit dem Nachfolger Petri zu trennen, was immer ihn dabei bewegt. Kirche steht und fällt in dieser Gemeinschaft mit und unter Petrus.

Der Papst hat uns aufgefordert, nach neuen Wegen zu suchen. Dabei war es unsere Aufgabe, auf die Notwendigkeiten im Blick auf die Situation von Kirche und Gesellschaft in unserem Land zu achten. Die Lesung aus dem ersten Brief des Apostels Petrus nimmt uns dabei in Pflicht: "Sorgt als Hirten für die euch anvertraute Herde Gottes, nicht aus Zwang, sondern freiwillig wie Gott es will; auch nicht aus Gewinnsucht, sondern aus Neigung; seid nicht Beherrscher eurer Gemeinden, sondern Vorbilder für die Herde!" (1 Peter 5,2f) Dies wollen wir im Gespräch mit Petrus erreichen. Wir haben auch in schwierigen Situationen schon viele gute Erfahrungen im Gespräch untereinander und mit dem Nachfolger Petri gemacht. Gegen allen Defätismus glauben wir mit Zuversicht, daß der Geist Gottes uns dabei nicht im Stich läßt. Dafür bitten wir um Ihr inständiges Gebet. Amen.

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