| Pressemeldung

Predigt des Erzbischofs von München und Freising, Kardinal Friedrich Wetter, bei der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda

Es gilt das gesprochene Wort!
"Windhauch, Windhauch, das alles ist Windhauch" (Koh 1,2), so beginnt das Buch Kohelet, wie wir in der Lesung hörten.
Dann schreitet Kohelet die verschiedenen Bereiche des menschlichen Lebens ab: Wissen und Bildung, Reichtum und Armut, Genuss und Wohlergehen, Gelingen und Misslingen, Macht, Ehre, langes Leben. Und jedesmal das gleiche Urteil: Alles ist Windhauch. Denn alle trifft das gleiche Geschick: "Ein und dasselbe Geschick trifft den Gesetzestreuen und den Gesetzesbrecher, den Guten, den Reinen und den Unreinen, den Opfernden und den, der nicht opfert. Dem Guten geht es wie dem Sünder" (9,2). "Iss also freudig dein Brot, und trink vergnügt deinen Wein. ... genieß das Leben alle Tage deines Lebens voll Windhauch" (9,7.9) Denn eines Tages ist für alle alles aus.

Wenn das Ende so aussieht, dann ist auch alles im Leben Windhauch. "Windhauch, Windhauch, das alles ist Windhauch" (Koh 12,8), so fasst Kohelet seine Erkenntnisse im letzten Kapitel seines Buches nochmals zusammen.

Was soll das heißen? Wenn unser Leben nur Windhauch ist, hat dann alles Mühen einen Sinn? Wozu sich noch anstrengen? Sich einsetzen und Opfer bringen? Lieber das Leben auskosten und genießen, solange uns noch Lebenstage gegeben sind, auch wenn sie voll Windhauch sind.

Will Gott uns das sagen? Das Buch Kohelet ist ein Buch der Hl. Schrift, also Gottes Wort. Nein, die Botschaft lautet: So sieht die Welt aus, so sieht das Leben aus, wenn wir es nicht im Lichte Gottes sehen.

Das Büchlein Kohelet ist wahrscheinlich im 3. Jahrhundert vor Christus geschrieben, also älter als zweitausend Jahre. Aber es ist auch für unsere Zeit geschrieben und trifft die Denkweise und auch die Gemütslage vieler Zeitgenossen.

Viele sehen die Welt und ihr eigenes Leben nur vordergründig, nur das, was sie mit ihren Sinnen erfassen können. Diese Sicht macht das Leben begrenzt und vergänglich. Doch das ist nicht das Ganze unserer Wirklichkeit. Im Lichte Gottes sehen wir die Welt und unser Leben auf das Jenseits hin, auf die Ewigkeit hin, auf Gott hin geöffnet. Das, was jetzt ist und geschieht, ist nicht eines Tages aus und vorbei. Denn im Jetzt dieser Zeit reift heran, was ewig bleibt. Die Zeit ist das Noviziat für die Ewigkeit.

Ganz am Ende seines Buches öffnet Kohelet den Blick über das Leben voll Windhauch hinaus auf Gott: "Fürchte Gott, und achte auf seine Gebote" (Koh 12,13). Um die Welt, die Vorgänge in der Welt und unser eigenes Leben richtig zu sehen, müssen wir alles im Lichte Gottes sehen.

An der Gestalt des Münchner Kaplans Hermann Josef Wehrle möchte ich Ihnen veranschaulichen, wie sich die Sicht der Welt im Lichte Gottes verändert. Hermann Josef Wehrle war im Alter von fast 43 Jahren von Kardinal Faulhaber am 6. April 1942 in Freising zum Priester geweiht worden. Er wirkte als Kaplan in der Münchner Pfarrei Hl. Blut. Dort war er Beichtvater des Freiherrn von Leonrod, der zu den Männern des 20. Juli gehörte. Diese Verbindung wurde bekannt; so wurde er ihnen als Mitwisser zugeordnet. Am 18. August 1944 verhaftete ihn die Gestapo aus dem Pfarrhaus heraus. Am 14. September wurde er von dem sogenannten Volksgerichtshof zum Tod durch den Strang verurteilt. Noch am gleichen Tag wurde das Urteil in Berlin-Plötzensee vollstreckt.

Danach schickte man die Kleider des Hingerichteten an seine Schwester. Darin fand sie einen Zettel, von ihrem Bruder beschrieben. Darauf stand: "Ich bin eben zum Tod verurteilt. Welch schöner Tag - heute Kreuzerhöhung".

Welch eine Sicht vom Leben und Sterben wird hier offenbar! Seine gottlosen Richter dachten, Kaplan Wehrle durch die Hinrichtung wie einen Windhauch wegblasen zu können. Sie ließen seinen Leichnam verbrennen und die Asche über die "Rieselfelder" verstreuen, auf die Kanalisationswässer geleitet wurden.

Denselben Vorgang sieht Kaplan Wehrle ganz anders. In seinem Sterben weiß er sich in das Geheimnis des Kreuzes Christi hineingenommen. Am Galgen aufgehängt, weiß er sich mit Jesus Christus am Kreuz hängen, im unerschütterlichen Glauben, dass er mit Jesus aufersteht und in Gottes Herrlichkeit aufgenommen wird. Sein Leben wird durch sein Sterben nicht Windhauch, sondern in Gott auf ewig vollendet.

Eine solche Sicht der Dinge, wie sie uns Kaplan Wehrle vorgelebt hat, ist selten geworden. Auf weite Strecken hin wird Gott aus dem Leben ausgeblendet oder einfach vergessen. Es ist eine vordringliche Aufgabe heute, uns und unsere Welt im Licht Gottes neu zu sehen. Erst so geht uns auf, was es um uns und unser Leben ist.

Unser Leben ist nicht Windhauch, sondern empfängt seine Tiefe und Größe daher, dass Gott uns nach seinem Bild geschaffen hat. Die hohe, unantastbare Würde des Menschen, eines jeden Menschen, kommt daher, dass er Abbild Gottes ist. Mit seinem ganzen Sein ist der Mensch auf Gott hin bezogen. Nur von dieser Wahrheit des Glaubens lässt sich begründen, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, wie es in Art 1 GG heißt. Und das Konzil lehrt uns: "Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf. ...

Christus, der neue Adam, macht in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung." ... Jesus Christus, "der das Bild des unsichtbaren Gottes" (Kol 1,15) ist, er ist zugleich der vollkommene Mensch" (GS 22).

"Nur wer Gott kennt, kennt den Menschen", war das Thema einer großen Rede, die Romano Guardini auf dem Katholikentag 1952 in Berlin hielt.

Von Gott her empfangen wir unser Menschenbild. Darum verteidigen wir das Leben der ungeborenen Kinder und wehren uns gegen das Klonen und gegen das verbrauchende, d. h. tötende Experimentieren mit Embryonen. Denn es geht hier nicht um Zellhaufen, sondern um Menschen.

Darum weisen wir die aktive Sterbehilfe zurück, d. h. das tötende Eingreifen in das Leben des siechen Alten und unheilbaren Kranken, sondern begleiten ihn auf der letzten Wegstrecke seines irdischen Lebens an das Tor der Ewigkeit.

Auch die Vorgänge der Weltgeschichte mit all ihren Rätseln und Geheimnissen müssen wir im Lichte Gottes sehen. "Die Tragödie dieser Welt besteht darin, dass die meisten Menschen Gott nicht ernst nehmen", schreibt Julien Green in seinem Tagebuch. Es wäre der Mühe wert, einmal die Fragen und die Tragödien unserer Zeit in diesem Lichte zu bedenken.

Das gilt auch von der Geschichte der Kirche nicht nur der Vergangenheit, sondern auch von der Kirche, wie wir sie heute erleben. Da stellen sich Fragen wie der Rückgang der Priester- und Ordensleute, die Entfremdung vieler von der Kirche, unsere angeschlagene Glaubwürdigkeit, die Schwierigkeit, missionarische Kirche zu sein und Menschen für Christus zu gewinnen. Was hat Gott mit alldem und mit uns vor?

Einsicht bringen uns nicht die Statistiken. Was sich in Kirche und Welt und damit auch in unserem eigenen Leben abspielt, wird uns nur aufgehen, wenn wir versuchen, alles im Lichte Gottes zu sehen. Die Geschichte Israels im Alten Bund kann uns hier die Augen öffnen.

Wir dürfen und müssen uns und die Welt im Lichte Gottes sehen. Das ist oft ein mühseliger Lernprozess. Aber er ist nötig. Nur so werden wir davor bewahrt, selbstherrlich mit unserem Können babylonische Türme zu bauen, von denen es heißt: "Windhauch, Windhauch, das alles ist Windhauch." Nie wird es den Menschen gelingen, auch nur einen einzigen Turm hinauf in den Himmel zu bauen. Dorthin kommen wir nicht aus uns selbst, sondern durch den Herrn, der gesagt hat: "Wenn ich über die Erde erhöht bin, werde ich alle zu mir ziehen" (Joh 12,32).

Vergessen wir darum nicht:

"Menschen, die Hoffnung haben, sehen weiter.
Menschen, die aus der Liebe leben, sehen tiefer.
Menschen, die aus dem Glauben leben, sehen alles in einem anderen Licht".

(Lothar Zenetti)

Amen.

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