| Pressemeldung

Predigt Bischof Prof. Dr. Dr. Karl Lehmann, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, im Ökumenischen Gottesdienst anläßlich des 50. Jahrestages der Gründung der Bundesrepublik Deutschland am Pfingstmontag, 24. Mai 1999, im Berliner Dom

Das Geburtstagskind ist bisher älter geworden als alle bisherigen deutschen Verfassungen, obgleich es diesen Namen offiziell gar nicht hat. Das Grundgesetz war als Provisorium für eine "Übergangszeit" (Präambel) gedacht. Es hatte auch von Anfang an den erstaunlichen Mut, sich grundlegend zu übernationalen Aufgaben zu bekennen, das heißt: "als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen" (Präambel). Obwohl dem Kind von der ersten bis zur letzten Seite so viel Vorläufigkeit und Selbstverzicht in die Wiege gelegt worden waren, hat sich die Bundesrepublik Deutschland mit diesem Fundament erstaunlich gut entwickelt. Allenthalben ist von einer "Erfolgsgeschichte" die Rede. Viele Feinde von gestern sind heute in aller Welt unsere Partner und Freunde. Ein namhafter Politikwissenschaftler (Kurt Sontheimer) konnte im Blick auf den bisherigen geistig-politischen Weg über ein Buch den Titel setzen: "So war Deutschland nie". Darum haben wir Grund, für diese fünf Jahrzehnte ein herzliches Danke zu sagen. Vieles ist glücklich und beinahe unerwartet in Erfüllung gegangen, wie vor allem die deutsche Einheit. Wir wollen ganz bewußt Gott danken, der viel Segen gewährte, aber auch vielen Frauen und Männern, die vom ersten Tag bis heute dem Auf- und Ausbau dieses arg darniederliegenden Landes ihre ganze Kraft geschenkt haben.

Unser Grundgesetz hat manche Anleihen übernommen aus den Verfassungen von 1849, 1871 und 1919. Dennoch ging es seinen eigenen Weg. Es hat die Demokratie und den Rechtsstaat, den Sozialstaat und den Bundesstaat grundlegend gestärkt. Es hat ihnen nicht nur bindende Inhalte gegeben, sondern von Grund auf auch verhindert, daß Demokratie und Freiheit auf demokratischem Weg abgeschafft werden könnten. Demokratie erschöpft sich freilich nicht bloß in einem formalen Regelspiel, sondern ist streitbar und wehrhaft, wenn es um ideologische Gegenentwürfe geht.

Der Gesetzgeber ist im Unterschied zu unseren bisherigen Verfassungen strikt selber an die Grundrechte gebunden. Es war mutig, an erster Stelle nicht die klassischen Staatsziele zu setzen, sondern alle Grundrechte und Fundamente in der Menschenwürde zu verankern, die auch und gerade Maß und Grenze für den Staat selbst ist: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." (Art. 1, Abs. 1) Es gehörte viel Mut dazu, sich unmittelbar nach der Erfahrung grenzenloser Gewalt und staatlicher Willkür sich auf diese Unverletzlichkeit der Menschenwürde als Garant einer neuen Ordnung zu verlassen. Hatte sich die Menschenwürde nicht nur in der Erfahrung der nationalsozialistischen Diktatur geradezu als höchst antastbar und verletzlich erwiesen (vgl. Franz Josef Wetz, Die Würde des Menschen ist antastbar, Stuttgart 1998)?

Der Anfang war dafür wichtig: Im Parlamentarischen Rat saßen Frauen und Männer, die in vielem weltanschaulich, ethisch und religiös sehr unterschiedlicher Meinung waren, aber viele hatten in den Zellen der Gestapo und in den Gefängnissen, ja auch in den Konzentrationslagern als Christen und Marxisten, Liberale, Konservative und Sozialdemokraten die gemeinsam bindende Erfahrung gemacht, daß es nie mehr so kommen darf, wie es war.

Dieser gemeinsame Vorrat an Grundüberzeugungen hat lange gehalten. Man hat vielleicht sogar in der fast ungebrochenen Dynamik des Aufbaus zu sehr darauf vertraut, er könnte als fast selbstverständliche Bestandsgarantie einfach wie ein Erbe weitergegeben werden. Die 68er Jahre haben - fast zur Hälfte unserer Jubiläumszeit - daran erinnert, daß diese Fundamente gerade in der Zeit großen Wohlstands nicht oder nicht mehr selbstverständlich waren, jedenfalls für einen Teil der kommenden Generationen. Schnell war der unantastbaren Menschenwürde, auch wenn sie vom Staat verteidigt wurde, der Boden entzogen. Ist es am Ende doch eine unhaltbare Provokation? Aber auch die heutigen Probleme um Embryonenforschung und Humangenetik, Hirntod und Organtransplantation, Abtreibung und Euthanasie, Homosexualität und Drogen bringen uns rasch nahe, wie sehr diese in Anspruch genommene Würde des Menschen bei der Konkretisierung eine schwere Bürde wird.

Wie läßt sich dieser absolute Vorrang der Menschenwürde begründen? Gibt der weltanschauliche, ethische und religiöse Pluralismus unserer Tage, der sich manchmal auch in bodenloser Beliebigkeit zu verlieren droht, wirklich so viel Gemeinsamkeit her, daß ein ganzer Staat sich darauf gründen kann? Diese Frage muß man aushalten. Man darf sie nicht funktional, technisch und neutralistisch verdrängen. Warum muß ich als Einzelner, aber auch als Staat die manchmal ja auch elend in Erscheinung tretende Menschenwürde unter allen Umständen und unter allen Bedingungen immer an die erste Stelle setzen? Gilt dies auch dann noch, wenn ein großer Gewinn lockt, wenn Verrat droht oder der Staat gefährlich unterminiert wird? Worauf beruht denn die "Unantastbarkeit" der Menschenwürde? Ist es am Ende doch nur ein beruhigender Mythos oder eine einschläfernde fremde Illusion? Man darf sich nicht an der Frage vorbeimogeln, warum die Menschenwürde und die auf ihr gründenden Menschenrechte - bei allen konzedierten Einschränkungen (vgl. Art. 2, Abs. 2) wenigstens im Grundsatz absolut und universal gültig sind, und zwar wirklich in jedem einzelnen Fall.

Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben die Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit sorgfältig gehütet. Aber sie hatten doch wohl auch ein sicheres Gespür dafür, daß die Unantastbarkeit der Menschenwürde nicht nur oder allein vom guten Willen des Menschen abhängig sein kann und ist. Gerade darum heißen die ersten Worte unseres Grundgesetzes nicht zufällig: "Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen..." .Wie immer das Wort "Gott" gehaltlich konkretisiert und gefüllt wird, auf jeden Fall ist es eine Instanz, die die Würde des Menschen anmahnt, wachsam über sie hütet und auch Rechenschaft vom Menschen fordert. Hier geht es um eine Wirklichkeit, die dem Menschen entzogen ist, aber ihn gerade deswegen in Anspruch nehmen kann. Ein großer Zeuge jener Jahre, der sich gegen jede Vorstellung eines "christlichen Staates" wehrte, Carlo Schmid, schreibt in seinen "Erinnerungen" (Bern 1979, 371 f): "Die meisten Bewohner der Bundesrepublik werden unter diesem Gott, den die Präambel nennt, den Gott verstehen, dessen Gebote ihnen die religiöse Unterweisung im Elternhaus und in der Schule sowie ihr Leben in den Kirchen unseres Landes nahegebracht haben. Für viele wird er identisch sein mit dem Herrn des 'Stirb und werde' unseres Schicksals, ... und es gibt, wie das Beispiel des 'Materialisten' Ernst Bloch zeigt, jenes Göttliche auch für den Marxisten, den die Erfahrung gelehrt hat, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt, sondern daß es in seinem Bewußtsein eine übergreifende Transzendenz gibt, die ihre Forderungen stellt."

Kein Christ wird den Gottesbezug der Präambel allein für sich beanspruchen, aber niemand kann es in diesem Gemeinwesen den Christen verwehren, in dem, was hier "Gott" genannt wird, den Schöpfer des Himmels und der Erde sowie den Vater Jesu Christi zu entdecken und zu benennen. Dieses Bekenntnis darf niemand auferlegt, es darf aber auch nicht vernebelt werden.

Dieser Gott ist das letzte Fundament für die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Darin sind sich auch die abrahamitischen Religionen des Judentums, des Christentums und des Islam einig. Dahinter steht die Überzeugung, daß nur die Gottebenbildlichkeit des Menschen (vgl. Gen 1,26 f; 2,7; Ps 8,6 ff; Eph 4,24; Kol 3,10) verhindern kann, daß der Mensch Mittel zum Zweck und allerlei Instrumentalisierungen untergeordnet wird. Schon am Anfang der Menschheit kam es hier zu tödlichen Konflikten. Als Kain den Abel erschlägt antwortet Kain auf die Frage, wo sein Bruder Abel sei: "Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?" Die Antwort Gottes "Was hast du getan, das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden." Kain weiß, daß die Verletzung der Menschenwürde zu einer unmöglichen Last wird: "Zu groß ist meine Schuld, als daß ich sie tragen könnte." (Gen 4,9.10.13)

Ich bin der festen Überzeugung, daß wir in einem solchen letzten Bereich die Wurzeln für die Unantastbarkeit der Menschenwürde suchen müssen. Sollen wir uns dann nicht gerade hier in Berlin angesichts unserer Geschichte von einem nicht bloß stummen, sondern einem sprechenden Mahnmal anrufen lassen, in der Sprache des gequälten jüdischen Volkes und in den Sprachen der Opfer, aber auch der Täter: "Du sollst nicht töten/Du sollst nicht morden."? Darüber und erst recht über alle Einzelheiten sollte man miteinander reden können. So grundsätzlich (nur negativ) religionsneutral ist jedenfalls das Dokument unseres Gemeinwesens, das Grundgesetz, nicht.

Das Grundgesetz gewährt Stabilität und Offenheit. Es ist tauglich auch für künftige Aufgaben. Die Christen dieses Landes, die viel zur Entscheidung und zur Entfaltung beigetragen haben, werden es mit vielen anderen in Dankbarkeit und mit Zuversicht verteidigen und es immer wieder in den Alltag der gegenwärtigen Realität zurückholen, um menschenwürdige Verhältnisse zu schaffen. Amen.

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