| Pressemeldung

Politische Verantwortung an der Schwelle zum 21. Jahrhundert

Wort der deutschen Bischöfe zur Bundestagswahl 1998

Am 27. September wird der 14. Deutsche Bundestag gewählt. Alle Wahlberechtigten sind aufgerufen, durch die Abgabe ihrer Stimme ihre Mitverantwortung für die politische Zukunft unseres Landes wahrzunehmen. Aus diesem Anlaß wenden wir uns – wie bei früheren Wahlen – an alle katholischen Mitchristen und an die gesamte öffentlichkeit.

Für die persönliche Wahlentscheidung kommt es darauf an, sich ein klares Bild von den Parteien und ihren Kandidaten zu machen: Wie sind die Leistungen einzuschätzen, die sie in der jetzt zu Ende gehenden Legislaturperiode für unser Volk erbracht haben? Welches Menschenbild und welches Gesellschaftsverständnis prägen ihre politischen Entscheidungen? Welche Lösungen schlagen sie für die schwierigen Aufgaben der Zukunft vor? Wie steht es mit der sachlichen Kompetenz und der persönlichen Überzeugung der Kandidaten, die das deutsche Volk im Parlament vertreten wollen? Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen kann dem einzelnen Wähler nicht abgenommen werden. Im folgenden werden einige inhaltliche Gesichtspunkte für eine verantwortliche Entscheidungsfindung benannt.

Das herausragende Ereignis unserer jüngsten Geschichte ist die Wiederherstellung der deutschen Einheit. Noch immer blicken wir mit Dankbarkeit und Freude hierauf zurück, auch wenn nach der ersten Euphorie eine gewisse Ernüchterung eingetreten ist. Der Wiederaufbau in den neuen Bundesländern hat in bald zehn Jahren weit mehr erreicht, als eine negative Kritik oft anzuerkennen bereit ist. Gleichwohl bleibt der wirtschaftliche, soziale und kulturelle Einigungsprozeß auch in den kommenden Jahren eine erstrangige Aufgabe. Es gilt, die wiedergewonnene staatliche Einheit immer mehr zu einer gesellschaftlichen Wirklichkeit werden zu lassen. Von den Parteien muß erwartet werden, daß sie die Solidarität zwischen Ost und West fördern. Politische Kräfte, die aus Nostalgie oder ideologischer Verhärtung die Trennung in den Köpfen aufrecht erhalten wollen, arbeiten gegen das Wohl der Menschen, deren Interesse sie angeblich vertreten. Dies setzt der politischen Kooperation mit ihnen enge Grenzen.Der anhaltend große Mangel an Arbeitsplätzen ist das zentrale gesellschaftliche Problem in Deutschland und Europa. Vor allem Jugendliche, die keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz haben, aber auch viele Erwachsene leiden darunter. Der Mangel an beruflichen Perspektiven zerstört die Zuversicht in die Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft und kann sogar das Vertrauen in unsere demokratische Grundordnung beschädigen. Manche Anzeichen deuten darauf hin, daß wir in unserem Land den Tiefpunkt der Entwicklung überschritten haben und hoffen dürfen, daß der notwendige Strukturwandel der Wirtschaft und die sich belebende Konjunktur zur erheblichen Reduzierung der Arbeitslosigkeit, vor allem auch in den benachteiligten Regionen, führen. Dennoch wird es nicht möglich sein, diese Probleme in kurzer Zeit zu lösen.Auch in Zukunft wird also eine große und schwierige Aufgabe darin bestehen, die wirtschaftliche Leistungskraft und die soziale Sicherung der Menschen im notwendigen Gleichgewicht zu halten. Dabei kommt es entscheidend darauf an, welches gesellschaftliche Leitbild für die politischen Kräfte maßgebend ist. Nur eine tatkräftige Solidarität und ein verantwortungsbereiter Grundkonsens können unsere Gesellschaft zusammenhalten und ihre Entwicklung sichern. Deshalb sind alle Tendenzen zurückzuweisen, die Eigenverantwortung und Gemeinschaftsverpflichtung gegeneinander ausspielen. Es gilt: Ohne eine leistungsfähige Wirtschaft ist jedem sozialen Ausgleich die Grundlage entzogen; ohne unternehmerische Innovation wird die Zukunft der Arbeit weiter eingeschnürt. Es gilt aber auch: Ohne sozialen Zusammenhalt werden Demokratie und Marktwirtschaft die gesellschaftlichen und ökonomischen Herausforderungen der kommenden Jahre nicht bewältigen. Es bedarf besonderer Aufmerksamkeit, welche Signale die Parteien zur Lösung der hier bestehenden Probleme geben und in welche Richtung sie die Entwicklung lenken wollen. (vgl. im einzelnen das Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit", Gemeinsame Texte 9). Die Bedeutung des Grundkonsenses in der Gesellschaft geht über den wirtschaftlichen und sozialen Bereich weit hinaus. Sie betrifft die gesamte Wertordnung des individuellen und öffentlichen Lebens sowie die religiösen Grundlagen und Überzeugungen.

Seit vielen Jahren stehen die modernen Gesellschaften in einem anhaltenden Wertewandel. Jeder Erwachsene kann diese Veränderungen in seinem eigenen Leben beobachten. Diejenigen, die nach dem Ende der staatlich verordneten sozialistischen Doktrin eine Suche nach neuen Werten vorgenommen haben, kennen erst recht die Schwierigkeiten der Orientierung in einer pluralistischen Umgebung. Die religiöse Entfremdung im Osten und die wachsende Gleichgültigkeit gegenüber dem Glauben im Westen tragen ebenfalls zu einer starken geistigen Erosion und Orientierungslosigkeit bei. Für eine gute gesellschaftliche Entwicklung fehlen deshalb maßgebliche Voraussetzungen. Es ist nicht unbillig, auch die politischen Parteien und ihre Repräsentanten ernsthaft nach ihrer ethischen Grundorientierung und ihrer religiösen Haltung zu befragen. Die politischen Entscheidungen, die durch die Wahl in ihre Verantwortung gegeben werden, erfordern nicht nur fachliche Kompetenz und Gestaltungswillen, sondern auch ein klares Wertbewußtsein, das seine religiöse Fundierung zu erkennen gibt. Überzeugte Christen sollten sich in der heutigen Situation nicht scheuen, durch ihre Wahl dazu beizutragen, daß Abgeordnete in den nächsten Deutschen Bundestag kommen, die in ihren persönlichen Überzeugungen diesen Erwartungen entsprechen.

Ein klares Wertbewußtsein ist in der Politik unverzichtbar: von der Gentechnik bis zur Umweltethik, in der Gesundheits- und Sozialpolitik, im Bereich von Bildung und Erziehung, nicht zuletzt beim Schutz des ungeborenen Kindes und in einer Ehe- und Familienpolitik, die im Einklang mit der Schöpfungsordnung steht. Ehe und Familie sind das Fundament unserer Gesellschaft. Eine verantwortungsvolle Politik muß nicht nur die materiellen Rahmenbedingungen für ihre Entwicklung stärken. Sie muß auch dafür sorgen, daß Ehe und Familie im Erziehungswesen und in der Rechtsordnung als positives Leitbild erhalten bleiben und für die jungen Menschen neue Kraft gewinnen. Wer unter dem Zeichen der Gleichbehandlung von anderen Formen des Zusammenlebens die grundlegende Bedeutung von Ehe und Familie einschränkt oder verneint, zerstört die Lebenskraft unserer Gesellschaft. Unsere Rechts- und Gesellschaftsordnung bestimmt auch das Leben von mehreren Millionen ausländischer Mitbürger, Flüchtlinge und Asylbewerber. Wir brauchen deshalb auch in Zukunft eine Politik, die das Zusammenleben mit Menschen aus anderen Nationen und Kulturen auf der Grundlage von Menschenwürde und Menschenrechten gewährleistet. Die von politischen Randgruppen und extremen Parteien geförderte Fremdenfeindschaft muß uns beschämen und unseren entschiedenen Widerstand hervorrufen.

Die Integration unseres Landes in den europäischen Einigungsprozeß ist die notwendige Ergänzung der wiedergewonnenen nationalen Einheit. Unsere Zukunft liegt in einem auf Freiheit und Gerechtigkeit gegründeten, friedvollen Zusammenleben in der Gemeinschaft mit den anderen europäischen Völkern. Nicht nur die Wahl des Europäischen Parlamentes, sondern auch die Wahl zum Deutschen Bundestag steht in dieser europäischen Perspektive. Die großen strukturellen Probleme und Herausforderungen, die aus der Globalisierung der Wirtschaft erwachsen und die nicht nur Deutschland, sondern auch andere Völker betreffen, können nur noch durch Kooperation der Demokratien angegangen werden. Dabei geht es auch hier nicht allein um wirtschaftliche und soziale Belange, sondern um das Wachsen einer europäischen Wertegemeinschaft, die sich ihrer christlichen Ursprünge und Wirkungskräfte bewußt ist. Wir sollten die Parteien fragen, ob sie sich dieser Aufgabe bewußt sind und welche Leitvorstellungen sie für unsere europäische Zukunft haben.Ein Wort bleibt zum Schluß an alle diejenigen zu richten, die sich mit dem Gedanken tragen, sich nicht an der Bundestagswahl zu beteiligen. Wir erinnern an die einfache Tatsache, daß auch das Fernbleiben von der Wahl deren Ergebnis beeinflußt. Deshalb rufen wir eindringlich dazu auf, sich der Verantwortung der wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger nicht zu entziehen. Für Christen ist es Pflicht, sich an der Wahl zu beteiligen, zumal im Jahr 1998 die politischen Weichen für den Übergang in ein neues Jahrhundert gestellt werden.

Dieser Text wurde vom Ständigen Rat der Deutschen Bischofskonferenz bei seiner Sitzung in Würzburg am 24. August 1998 verabschiedet.

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