| Pressemeldung

Leselust und Lesenutzen

Erklärung des Vorsitzenden der Publizistischen Kommission der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Dr. Hermann Josef Spital

1. Medienwelt und Buch

Unser Jahrtausend geht zu Ende. Die spektakulärsten Veranstaltungen zum Jahreswechsel sind längst ausverkauft. Mit großem öffentlichen Aufwand wird das Zeitalter beendet, dessen Kinder wir sind. Sang- und klanglos scheint hingegen die Epoche der Erfindung Gutenbergs, das Zeitalter des Buchdrucks und des Lesens, unterzugehen. Die angebrochene neue Zeit ist vom Hören und Sehen geprägt, gekennzeichnet durch ein umfassendes Informationsangebot in Wort und Bild. Funk und Fernsehen, die schon altmodisch anmutenden Medien, nutzen wir alle, mehr oder weniger häufig, mehr oder weniger verantwortlich. Kinder hantieren gekonnt mit Computer, Handy, Videogerät und Fax. Sie sind selbst „online" oder surfen in der Schule, in Bibliotheken oder in Internetcafés, verschicken e-mails, wandern durch virtuelle Welten und lassen Eltern und Großeltern irritiert zurück.

Die Kirche kann sich diesen Herausforderungen nicht verschließen, besonders dann, wenn es um eine Vielfalt von Kommunikationsstrukturen geht, durch die „Interpretations- und Gestaltungsmöglichkeiten für menschliches Leben erschlossen oder verschlossen" werden (Gemeinsame Erklärung „Chancen und Risiken der Mediengesellschaft“, 55). Deshalb ist es nicht sinnvoll, diese neuen Wirklichkeiten der Medienwelt abzuwehren, denn all dies ist beim Aufkommen neuer Medien zu allen Zeiten immer schon und dann immer auch erfolglos versucht worden. Das Lesen von Büchern – mittlerweile als Königsweg der Bildung beschworen – stieß zu Beginn auf mißtrauische Abwehr, und Mächtige aller Zeiten bis in die Gegenwart haben die Macht der Bücher erkannt und gefürchtet, haben Bücher zensiert, verboten und verbrannt. Auch die Kirche bildet da leider keine Ausnahme.

2. Lesen als Kulturtechnik

Umso drängender ist die Frage, ob aufgrund virtueller Welten und der unaufhaltsamen Informationsflut das Lesen in den Hintergrund gedrängt wird. Dabei ist hervorzuheben, daß das Medium Buch genauso zu den sozialen Kommunikationsmitteln zählt wie Zeitungen und Zeitschriften, Fernsehen und Hörfunk. Deshalb gilt für die sozialen Kommunikationsmittel und das Buch, daß sie unabdingbar sind, „die innersten, immer noch wachsenden Beziehungsgeflechte und Leistungen unserer Gesellschaft" zu ermöglichen (Communio et progressio 6). Deshalb möchte die Kirche betonen: Die kommenden Generationen dürfen das Lesen nicht vergessen! Die katholische und evangelische Kirche haben daran bereits vor einigen Jahren erinnert als sie forderten: „Neben dem Erlernen eines qualifizierten Umgangs mit visuellen Medien bedarf die Förderung der Kulturtechniken des Lesens und des Schreibens einer besonderen Pflege. Die Kompetenz im Umgang mit Texten ist von zentraler Bedeutung für den kritischen Umgang auch mit anderen Medienangeboten.“ (Gemeinsame Erklärung 65). Deutlich wird mit dieser Herausforderung, daß zwar das Monopol der Bücher unwiderruflich gebrochen ist, dagegen bleibt das Lesen als grundlegende Kulturtechnik unverzichtbar. Das hat wiederum Auswirkungen auf das gesellschaftliche Umfeld, denn wer „den Geist einer Zeitepoche tiefer verstehen möchte, darf nicht allein ihre Geschichte, sondern muß auch ihre Literatur und Kunst studieren.“ (Communio et progressio 56). Funk und Fernsehen bieten Information und Unterhaltung auch für Menschen, die nur mühsam oder gar nicht lesen, und schreiben können und davon gibt es auch bei uns mehr, als wir wissen. Jedoch sind alle computergestützten Bereiche des Lernens und Arbeitens angewiesen auf die Beherrschung der Schrift. Wer die Zeichen auf dem Monitor nicht lesen kann, dem bleibt auch die Welt verschlossen.

Bei vorurteilslosem Hinsehen läßt sich erkennen, daß die neuen Technologien bei aller Gefährdung und bei allen Auswüchsen menschenverachtender Schamlosigkeit durchaus auch Chancen zu einer gerechten Teilhabe am Wissensvorrat unserer Zeit bieten. Bibliotheken und Datenbanken sind weltweit erreichbar, ihre Informationen sind rasch und gut aufbereitet verfügbar. Wer sich einmal durch ein elektronisches Lexikon mit Text, Karten, Fotos, Tabellen, Dias, animierten Zeichnungen und Kurzfilmen geklickt hat, wird nicht bestreiten, daß in diesem Fall das Buch unterliegt.

3. Leselust und Lesenutzen

Wenn wir die Zeichen der Zeit erkennen und nutzen wollen, dann müssen wir uns jetzt für das Buch starkmachen. Die Leitfrage wird lauten: Was leistet das Buch, was nicht von den konkurrierenden Medien besser geleistet werden kann?

a) Die Greifbarkeit des Buches
Ein Buch hat sinnliche Qualitäten. Es ist im besten Fall gut gedruckt und gebunden, hat eine Umschlaggestaltung oder Illustrationen, die zum Hinschauen einladen. Es läßt sich greifen und mitnehmen. Man kann mit ihm wann und wo immer man will, in eine fremde Welt eintauchen und eigene Bilder im Kopf erzeugen: „Geschichten, die der lebhaften Einbildungskraft des Dichters entspringen, in denen er Menschen in einer fiktiven Welt leben und handeln läßt, geben auf ihre Weise ein Bild der Wahrheit. Obwohl sie keine Realität besitzen, sind sie doch realistisch, da sie aus Elementen der menschlichen Natur zusammengefügt sind.“ (Communio et progressio 56) Außerdem gibt uns das Buch die selten und darum kostbar gewordene Chance, Stille zu erfahren, unserem eigenen Rhythmus zu folgen und eigensinnig zu denken. Es gibt uns keinen Zeitrahmen vor, keinen festen Beginn und kein Ende wie im Film oder in einer Fernsehserie. Wir alle bestimmen, wie lange wir uns im Reich der Phantasie aufhalten, wie wir dieses Reich ausstatten und wann wir es wieder verlassen.

b) Lesen als Miterleben
Die in der Literatur exemplarisch vorgestellten Menschen, ihre Verstrickungen und Bedingtheiten, ihr Scheitern und Gelingen, ihre Liebe und ihr Haß, ihr Kampf und ihr Sterben, bieten uns die Möglichkeit, ohne Angst unterschiedliche Lebensentwürfe und -situationen auf unserer inneren Bühne durchzuspielen, sie zu erproben, zu verwerfen oder für uns zu nutzen. Das Schicksal der handelnden Personen kann uns tief berühren und unser Mitfühlen aktivieren. In der täglichen Medienflut ist es tragisch, daß erst ein einzelnes Schicksal, von Reportern in der richtigen Einschätzung unserer trägen, abgestumpften Herzen vor die Kameras und Mikrophone gezerrt, in uns Entsetzen und Trauer und im besten Fall den Impuls zur Hilfe erweckt. Der Mensch ist gierig, er kann nicht aufhören, sehen und sich an fremde Schicksale herandrängen zu wollen. In der Literatur darf er dies tun, ohne die Grenzen der Scham zu verletzen.

c) Lesen als Meinungsbildung
Der sorgfältige, vertraute Umgang mit Texten unterschiedlicher Art – so hoffen wir trotz mancher Enttäuschung noch immer – kann empfindsam machen für die Sprache und ihren möglichen Mißbrauch, kritisch gegenüber Phrasen, mißtrauisch gegenüber uneingelösten Glücksversprechungen. Wer liest, kann länger und genauer hinschauen, kann zurückblättern, kann verschiedene Meinungen einholen, kann abwägen und kann sich den (vermeintlichen) Luxus einer eigenen Meinung leisten. Er kann das alles, muß es aber nicht. Ein Buch läßt ihm Freiheit.

Es gibt gedruckten Schund zwischen Buchdeckeln und selbst die flächendeckende Lektüre der Klassiker mit ihrem Bekenntnis zum Guten, Wahren und Schönen hat uns nicht davor bewahrt, in Bestialität zu versinken. Trotzdem bieten Bücher einen Zufluchtsort für Mindermeinungen, einen Schutzraum für Themen, die nicht „in“ sind, sie verschaffen auch den leiseren, unangepaßten Stimmen Gehör, die keine Chance auf Selbstdarstellung etwa in einer Talkshow haben. Bücher können uns zum Lachen bringen, sie können zum Ratgeber werden, zum Begleiter in Reifungsprozessen, und die besten von ihnen werden zu lebenslangen Freunden. So liegt insbesondere im Buch die große Chance, als „Dienst der Wahrheitssuche und der Wahrheitsfindung sowie der Förderung des menschlichen Fortschritts" genutzt zu werden (Communio et progressio 13).Auf dem Markt der Medien wird das Buch seinen Platz nur dann behaupten, wenn wir seinen Wert begreiflich machen können: Das vermag durch das eigene Beispiel, durch Vorlesen, durch ein freies Angebot guter und spannender Bücher oder einfach durch das Wecken von Leselust zu gelingen. An diesem Kommunikationsprozeß müssen wir uns alle beteiligen, denn es geht um eine Frage der Kultur und des Wissens. Dabei sollten wir ein Entweder-Oder und das Ausspielen des einen Mediums gegen das andere vermeiden.

4. Das Buch: Ein Plus für das Christentum

Das Christentum hat als Buchreligion einen besonderen und unersetzbaren Bezug zum Medium Buch. Deshalb sind die Kirchen in Verantwortung für die Tradition einer „Buchreligion“ insbesondere der Wortkultur verpflichtet: „Das Verhältnis von Buchstabe und Geist, von Wort und Bild bedarf angesichts der enormen Ausweitung der elektronischen Medien einer intensiven Aufmerksamkeit und Pflege.“ (Gemeinsame Erklärung 79). Denn selbst zum kostbarsten unserer Bücher, zur Heiligen Schrift, gibt es inzwischen verschiedene mediale Zugänge. So wird beispielsweise ein Studierender der Theologie sich unterschiedliche Übersetzungen der Bibel, Kommentare, Querverweise und weiterführende Literatur auf den Bildschirm seines Computers holen. Für andere erschließt ein gut gemachter Bibelfilm die Welt unseres Glaubens.

Wenn wir zum Wort Gottes greifen, um zu klagen mit den Psalmen oder Trost zu finden in den Verheißungen Jesu, wenn wir mit Hiob trauern oder Hoffnung aus der Auferstehung des Herrn schöpfen, dann werden wir jetzt und auch in Zukunft das Buch der Bücher in unsere Hände nehmen. Gleichzeitig werden auch künftig gute Werke der Literatur in die tiefen Gründe menschlicher Kraft und Leidenschaft reichen: „Sie vermögen diese so aufzuhellen, daß feinfühlige Menschen darin die Umrisse künftiger menschlicher Entwicklungen sich abzeichnen sehen und sie in ihrem Denken vergegenwärtigen.“ (Communio et progressio 56)

Bonn, den 23. August 1999
Bischof Hermann Josef Spital, Trier

 

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