| Pressemeldung | Nr. PRD 031

EU-Erweiterung ist ein epochales Ereignis

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, zur Erweiterung der Europäischen Union am 1. Mai 2004

Wenn am 1. Mai zehn neue Staaten in die Europäische Union aufgenommen werden, ist das nicht nur der Abschluss langer Vorbereitungen und Verhandlungen, sondern auch der Beginn für einen Prozess des erweiterten und vertieften Zusammenwachsens.
Vor allem aber ist dieses historische Datum ein Anlass zu Freude und Zuversicht: Länder rücken zusammen, die in unserer Geschichte oft blutig miteinander verfeindet waren. Knapp 15 Jahre nach dem Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs wachsen West- und Osteuropa zu einem gemeinsamen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Raum zusammen.

Diese "Europäisierung" der Europäischen Union ist eine Quelle der Hoffnung. Sie ist eine Gelegenheit, den ursprünglichen Auftrag der Europäischen Gemeinschaft zu erneuern, nämlich Freiheit, Gerechtigkeit, Friede und Wohlstand innerhalb und außerhalb der Grenzen der Union zu fördern. Die Verantwortung Europas in der Welt wächst, besonders auch für seine neuen Nachbarn im Osten und nicht zuletzt auch für die Völker in der Dritten Welt.

Die gegenseitige wirtschaftliche und politische Abhängigkeit der 25 Mitgliedstaaten wird Vertrauen und Kooperationsbereitschaft erfordern. Vertrauen und Solidarität nicht nur zwischen den Regierungen, sondern auch zwischen den 450 Millionen Bürgerinnen und Bürgern Europas. Vertrauen entsteht durch Begegnung und durch Verständnis für die Situation des anderen. Viele Gruppen, Einzelpersonen und auch die Kirchen haben über die Politik hinaus seit vielen Jahren versucht, Brücken zu bauen und durch Versöhnungsarbeit alte Wunden zu heilen. Europa soll ein "Europa der Menschen" sein, die sich in gelebter Solidarität nach innen wie nach außen miteinander verbunden wissen.

Viele der neuen Europäerinnen und Europäer fragen sich, in welches Europa sie jetzt kommen. Wenn der Europagedanke wirklich die Köpfe und Herzen der Menschen erreichen soll, braucht Europa gemeinsame Werte und Ziele. Die Erweiterung der Europäischen Union ist eine konkrete Chance, in ganz Europa grundlegende Werte zu fördern und zu verwirklichen, die für alle Menschen von elementarer Bedeutung sind: die Achtung der Menschenrechte, Gerechtigkeit, Frieden, Freiheit, Toleranz, Ehrfurcht vor dem Leben, Schutz von Ehe und Familie, Achtung gegenüber fremden Kulturen sowie Religionen und nicht zuletzt Solidarität mit Menschen in Not und Bedrängnis.

Die kulturellen Wurzeln, die zur Festigung dieser Werte beigetragen haben, sind gewiss vielfältig. In der jüdisch-christlichen Tradition haben sie "eine Kraft gefunden, die imstande war, sie untereinander in Einklang zu bringen, zu festigen und zu entfalten" (Papst Johannes Paul II.). Durch das Hinzukommen vieler Völker, die ihre Entstehung und ihre Geschichte zu einem guten Teil diesen Wurzeln verdanken, kann diese geistige und spirituelle Kraft neu erprobt werden. Die Diskussion über die Grundlagen eines Verfassungsentwurfs für das neue Europa ist noch nicht zu Ende. Es geht darum, Europa eine Seele zu geben.

Religion und Kirche dürfen nicht nur im historischen Rückblick Brückenbauer Europas in den Anfängen sein, sondern können auch heute integrativ wirken: durch die Pflege der Grundwerte und durch ein beispielhaftes Zeugnis vom Evangelium in Wort und Tat einschließlich der aus ihm folgenden sozialen und caritativen Konsequenzen. Dafür müssen die Kirchen bei aller Betonung der eigenen Identität, die zum Reichtum Europas gehört, mit einem vertieften ökumenischem Elan ihre Konflikte überwinden und immer mehr zusammenwachsen, nicht zuletzt auch im Sinne einer gestärkten Bereitschaft zum Dialog mit anderen Religionen, besonders dem Islam.

Diese große, begründete Hoffnung muss Angst, Kleinmut und die Vorherrschaft bloß nationaler Interessen zurücktreten lassen. Gewiss werden wir neuen Schwierigkeiten begegnen. Das Zusammenwachsen der 25 Staaten braucht Zeit. Zugleich stehen andere Staaten vor der Türe, die Einlass begehren. Für sie müssen neue Zugänge und engere Verbindungslinien zu dem erweiterten Europa geschaffen werden, wobei es ja nicht nur um die Türkei geht.

Als Papst Johannes Paul II. vor wenigen Wochen den Außerordentlichen Internationalen Karlspreis der Stadt Aachen erhielt, hat er seine Vorstellungen von einem geeinten Europa skizziert: Er wünsche sich ein Europa "ohne selbstsüchtige Nationalismen", ein Europa, in dem "die großen Errungenschaften der Wissenschaft, der Wirtschaft und des sozialen Wohlergehens sich nicht auf einen sinnentleerten Konsumismus richten", ein Europa, das "ein tätiger Faktor des Friedens in der Welt" sein möge, ein Europa, "dessen Einheit in einer wahren Freiheit gründet".

Diesen Wünschen schließen sich die deutschen Bischöfe heute gerne an. Wir werden mit allen Menschen guten Willens daran arbeiten, dass sie in Erfüllung gehen.

Bonn/Mainz, 30. April 2004

Karl Kardinal Lehmann Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz

Hinweis:
Eine Erklärung der Bischöfe der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (ComECE) zur EU-Erweiterung mit dem Titel "Solidarität ist die Seele der Europäischen Union" finden Sie im Internet unter


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