| Pressemeldung | Nr. 030

Eröffnungsgottesdienst der Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Trier

Predigt des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Dr. Robert Zollitsch

Den Menschen zugewandt – Engagiert für das Leben

Die Griechen bezeichnen den Menschen als ἄνθρωπος – als ein Wesen, das aufrecht steht und aufwärts schaut. So hat denn Gott seiner Kirche einen reichen Schatz geschenkt, der unseren Blick aufwärts lenkt und uns nach oben schauen lässt: die Heiligen. Jeder und jede von uns kennt faszinierende Gestalten unter ihnen: große Ordensgründer wie Benedikt und Franziskus; Kirchenlehrer wie Albertus Magnus und Hildegard von Bingen; überzeugende Glaubensboten wie Bonifatius und Franz Xaver – nicht zuletzt die Apostel selbst wie hier in Trier der heilige Matthias.

Was bei genauerer Betrachtung bei dieser „Wolke von Zeugen“ (Hebr 12,1) auffällt, ist, dass die Heiligen besonders populär sind und die größte Verehrung genießen, die sich in besonderer Weise der Not der Menschen, der Bedürftigen angenommen haben: die Heiligen der Nächstenliebe. Sei es der heilige Nikolaus, der sich um die Armen in Myra kümmerte und an dessen Fest bis heute die Kinder beschenkt werden. Oder der heilige Martin, der seinen Mantel mit dem Bettler teilte und weit über den Raum der Kirche hinaus bis heute die Menschen fasziniert. Denken wir an die heilige Elisabeth von Thüringen, die alles für die Armen hergab und in faszinierender Weise Kranke aufnahm und pflegte! Oder eben auch an die selige Mutter Teresa, die sich der Verlassenen und Sterbenden annahm! Sie alle bezeugen, dass Gott Liebe ist.

Gleich zu Beginn seines Pontifikats hat Papst Benedikt XVI. die Grundentscheidung eines jeden Christen in die biblische Formel gekleidet: „Wir haben der Liebe geglaubt“ (vgl. 1 Joh 4, 16). Gott selbst nämlich ist Liebe: „Deus caritas est“, wie der Titel der großartigen ersten Lehrschrift des Heiligen Vaters lautet. Ich denke in diesen Tagen vor dem Amtsverzicht Papst Benedikt XVI. dankbar an viele Worte, Zeichen und Begegnungen zurück, die mich mit ihm verbinden. Aber nicht nur mich persönlich, sondern alle Gläubigen in Deutschland und in aller Welt. Dazu gehört die Betonung dessen, dass Gott wesenhaft Liebe ist, dass er unsere Liebe weckt und dass unsere Liebe uns mit Gott vereint. Darin liegt auch der Schlüssel zum Verständnis des heutigen, so bekannten biblischen Bildes vom Hirten, der alle Völker zusammenruft, um die Schafe von den Böcken zu scheiden. Die Scheidelinie verläuft zwischen denen, die sich dem Notleidenden liebevoll zuwenden, und den anderen, die das nicht tun und die leiblichen Werke der Barmherzigkeit schuldig bleiben. Sie verfehlen die Nähe zum Guten Hirten. Papst Benedikt XVI. spricht vom „sehenden Herzen“ (DCE 31), das mit Gott verbindet und so unseren Blick nach oben lenkt. Für dieses sehende Herz legen in besonderer Weise unsere Heiligen Zeugnis ab.

Wer solch imponierende Gestalten vor Augen hat, schaut nicht nur nach oben; er spürt spontan, dass es beim caritativen, beim sozialen Handeln der Kirche um weit mehr geht als bloß um eine Sozialagentur oder eine Idee zur Weltverbesserung. Freilich, es geht auch um einen Dienst an unserer Gesellschaft. So haben wir uns auf dem zweiten Dialogforum im Rahmen unseres Gesprächsprozesses im vergangenen September in Hannover sehr bewusst auf unser Engagement und unseren Beitrag für eine „Zivilisation der Liebe“ eingelassen. Zu ihm gehören die vielen caritativen Aktivitäten der Kirche. Man sollte aber nicht vergessen dass der hl. Nikolaus zuerst Bischof und Verkünder des Glaubens war. Ebenso wäre es weit zu kurz gegriffen, Mutter Teresa nur als eine Frau zu sehen, die Sterbende aufnahm. Das ist eine allzu oberflächliche Betrachtung, der die entscheidende Perspektive fehlt.

Papst Benedikt XVI. hat oft auf die Auswirkungen einer Entwicklung hingewiesen, bei welcher der  Mensch um seinen Glauben an Gott betrogen oder sogar beraubt wird. Das ist sein entscheidendes Vermächtnis an uns: Gott ins Spiel zu bringen. Die Menschen aus dem rein Innerweltlichen herauszuholen und sie zum Glauben an Jesus Christus zu führen. Bereits bei seinem Deutschlandbesuch im Jahr 2006 hob er in seiner Predigt in Regensburg hervor: Seit der Aufklärung arbeite man emsig daran, „eine Welterklärung zu finden, in der Gott überflüssig ist. Und so soll er auch für unser Leben überflüssig werden. […] Doch die Sache mit dem Menschen geht nicht auf ohne Gott, und die Sache mit der Welt, mit dem ganzen weiten Universum, geht nicht auf ohne ihn.“

Liebe Schwestern, liebe Brüder, dass die Rechnung ohne Gott, der die Liebe ist, nicht aufgeht, das führen uns gerade die Heiligen deutlich vor Augen: Ihr Leben und Handeln gründet zutiefst in ihrem christlichen Glauben, aus ihrer Bereitschaft und Entschlossenheit, Jesus nachzufolgen und sein Evangelium zu leben. Die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Menschen sind nicht voneinander zu trennen. „Der Glaube, das Innewerden der Liebe Gottes, … erzeugt seinerseits die Liebe“ (DCE 39). Nimmt man einen Baustein heraus, geht das Gleichgewicht verloren. Man mag zu Jesu Leben und Handeln durchaus fragen, wie seine Tat im Einzelnen ablief: unstrittig und geradezu mit Händen zu greifen ist, dass Jesus sich der Ausgestoßenen und Kranken annahm und Kranke heilte; dass Jesus sich dem Menschen zugewandt und ihn so Gottes Liebe und Barmherzigkeit erfahren ließ.

Die großen Heiligen der Nächstenliebe verwirklichten in ihrem Leben, was Jesus uns im heutigen Tagesevangelium sagt: „Was ihr für einen meiner Geringsten … getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Dies ist eine gewaltige Zusage an uns: Im Nächsten dienen wir Jesus. Wir haben eine großartige Möglichkeit und Chance, Jesus selbst Gutes zu tun – im Nächsten. Zugleich steckt in diesen Worten Jesu eine ermutigende und herausfordernde Perspektive. Für unser Tun und über unser Leben wird entscheidend sein, ob wir Jesus in unseren Mitmenschen erkannt haben; ob wir die Bedürftigkeit derer, die Tür an Tür mit uns wohnen, bemerkt und uns für sie eingesetzt haben. Wer Gott in dieser Welt suchen und ihm dienen will, findet ihn und kann ihm dienen im Nächsten – und dies Tag für Tag. Ob wir dies nicht auch oft im Innersten spontan spüren? Würden wir uns sonst gerade von den Heiligen der Nächstenliebe ganz besonders angesprochen fühlen?

Es war das große Neue, das das Christentum mit dem Evangelium in die antike Welt brachte: Dass jeder Mensch eine einmalige Würde hat und dass darum auch die Bedürftigen und Kranken zur Gesellschaft gehören und dort ihren Platz haben. Heute vor einer Woche haben wir mit einem Gottesdienst im Marienwallfahrtsort Altötting den „Internationalen Welttag der Kranken“ begangen. In seiner Botschaft spricht Papst Benedikt vom „Apostolat der Barmherzigkeit“, das wir unseren „von Krankheit und Leiden geprüften Brüdern und Schwestern“ als „barmherzige Samariter“ zuwenden. In unserer „liebevollen und hochherzigen Annahme jedes menschlichen Lebens, vor allem des schwachen oder kranken“ hat nach Papst Johannes Paul II. „die Kirche heute ein besonders entscheidendes Moment ihrer Sendung“.

Leben aus dem Glauben und caritativer Dienst am Nächsten gehören zusammen; sie können nicht voneinander getrennt und nicht gegeneinander ausgespielt werden. Dies sagt uns der Verfasser des Jakobusbriefes knallhart: „Der Glaube für sich allein ist tot, wenn er nicht Werke vorzuweisen hat“ (Joh 2,17). Der Glaube an den dreifaltigen Gott, der  Liebe ist, drängt uns dazu, dem Anderen den Blick der Liebe zuzuwenden, den er braucht (vgl. DCE 18). Auf ihn kommt es an. Zu Recht schreibt Papst Benedikt: „Wer die Liebe abschaffen will, der ist dabei, den Menschen als Menschen abzuschaffen.“ (DCE) All unser Tun als Kirche hat dem Ziel zu dienen, dass Glaube, Hoffnung und Liebe wachsen.

Jeder, liebe Schwestern, liebe Brüder, der sich darum bemüht, spürt, dass dies eine gewaltige Herausforderung ist. So sind wir auch stets in Gefahr, hinter diesem Anspruch zurückzubleiben, ja auch zu versagen. Beim Bemühen, dem caritativen Handeln eine Struktur und Absicherung zu geben, kann es sein, dass das eigentliche Motiv unseres Handelns in den Hintergrund tritt und Sachzwänge die Optik bestimmen. So besteht denn auch die Gefahr, dass im Getriebe des Alltags der tragende Grund unseres Handelns zu wenig durchdringt. Darum sind wir stets zur Gewissenserforschung angehalten. Warum tun wir dies? Was verlangt die Liebe von uns? Bei all unserem Tun gilt es, bei den Menschen zu sein, ja ganz bei ihnen zu sein – Jesu Liebe weiterzugeben und dabei auch „fühlsam Gott gegenüber“ (DCE 18) zu werden.

So schmerzt es denn überaus, wenn Hilfesuchende nicht die Aufnahme und Hilfe finden, die sie zu Recht von unseren Einrichtungen erwarten dürfen. Das Wissen, dass wir aus menschlicher Begrenztheit und Schwäche stets in Gefahr sind, hinter dem Anspruch des Evangeliums zurückzubleiben und zu versagen, führt uns deutlich vor Augen, dass wir als pilgernde und dienende Kirche auch eine stets lernende Kirche sind. Natürlich haben wir viel Anlass zu Demut. Gleichwohl darf aber auch festgehalten werden, wie sehr es schmerzt, wenn einzelne Fälle rasch verallgemeinert und zur Polemik benutzt werden. Dies schmerzt vor allem deswegen, weil ungeheuer viel Gutes zum Beispiel durch kirchliche Krankenhäuser und die verschiedenen Einrichtungen der Caritas und der Diakonie geschieht. Doch getreu dem Dogma der Berichterstattung „Only bad news are good news – allein schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten“ interessiert allzu häufig das Gute nicht. Und doch leben wir, lebt unsere Gesellschaft, lebt unser Staat von ihm. Der Mensch als ἄνθρωπος ist dazu geschaffen, nach oben zu schauen, auf das Helle und Gute, und nicht um nach unten, auf das Düstere und Negative zu starren oder gar darin zu erstarren.

Viel zu selten, liebe Schwestern, liebe Brüder, machen wir uns im Alltag bewusst, wie sehr wir von dem – oft selbstlosen – Einsatz Anderer leben. Gerade weil dies in unserer schnelllebigen Zeit kaum mehr selbstverständlich zu sein scheint, sollten wir ganz besonders auf das soziale und oft selbstlose Tun Anderer achten und all denen, die sich in dieser Weise engagieren, unsere Wertschätzung und Dankbarkeit zeigen – ob sie dies in Ausübung ihres Berufes oder ehrenamtlich tun. Ohne deren vielfältiges Engagement wäre unsere Gesellschaft ärmer und kälter. Sie bauen und erhalten unser Gemeinwesen als Zivilisation der Liebe.

Wer sich in der Nachfolge Jesu von seinem Evangelium leiten lässt und versucht, aus Gottes Liebe zu leben, kann nicht anders, als sich den Menschen zuzuwenden und dem Leben zu dienen. Seit mehr als zwanzig Jahren erinnern wir gemeinsam mit der Evangelischen Kirche Jahr für Jahr in der „Woche für das Leben“ an diesen Einsatz. „Engagiert für das Leben“ – so das Leitwort in diesem Jahr – melden wir uns zu Wort, „ob gelegen oder ungelegen“ (2 Tim 4,2). Gerade weil wir wissen, dass wir immer wieder hinter dem eigenen hohen Anspruch zurückbleiben, dürfen wir nicht aufhören, den Finger in die Wunden unserer Zeit zu legen. Denn in der Öffentlichkeit, liebe Schwestern, liebe Brüder, ergibt sich bisweilen ein merkwürdiges Bild von dem, was als Hilfe angesehen wird. In nicht wenigen Diskussionsrunden und gesellschaftlichen Äußerungen gilt derjenige als dem Menschen zugewandt, der ihm „Sterbehilfe“ gewährt. Dass diese sogenannte Hilfe das Töten eines Menschen ist, wird oft wissentlich unterschlagen. Christliche Zuwendung zum Menschen kann niemals das Töten eines Menschen oder Hilfe dazu bedeuten. Christliche Zuwendung bestärkt in jedem kranken und sterbenskranken Menschen das Vertrauen darauf, dass ihm geholfen wird und er im Ernstfall nicht durch die Hand, sondern an der Hand eines lieben Menschen sterben darf. Es steht uns Menschen nicht zu, über das Leben eines Menschen zu entscheiden – auch nicht darüber, wer geboren werden darf und wer nicht. Auch das Wissen um die eigenen Grenzen kann uns nicht davon dispensieren, uns in jeder Situation für das Leben einzusetzen – auch gegen Thesen, die im Gewand des Gut-Gemeinten herkommen und doch das Gift des Lebensfeindlichen in sich tragen.

Die Kraft dazu gibt uns der „Blick nach oben“: der Blick auf Jesus Christus und die Heiligen der Nächstenliebe. Für sie gab und gibt es nur ein Maß, das Maß der Liebe. Das „Jahr des Glaubens“, in dem wir stehen, lädt uns ein, uns neu dieser „Schönheit des Glaubens“ – die uns Papst Benedikt XVI. unermüdlich erschloss – bewusst zu werden,  unseren Glauben in der Zuwendung zum Nächsten sichtbar zu machen und ihm mit den Händen greifbar Gestalt zu geben. Dies ist nicht nur ein Dienst an unseren Mitmenschen und an unserer Gesellschaft; es ist der bleibende Auftrag Jesu Christi an uns. Amen.

Schrifttexte:
Lev 19,1-2.11-18; Mt 25,31-46


Hinweis:

Die Predigt ist untenstehend auch als pdf-Datei zum Herunterladen verfügbar.

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