| Pressemeldung

Der Beitrag der Katholischen Ostkirchen zur Einigung Europas aus der Sicht der Ukraine

Vortrag von Lubomyr Kardinal Husar beim St. Michael-Jahresempfang des Kommissariats der deutschen Bischöfe am 04.11.2002

Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrte Damen und Herren!
Mein Beitrag zu dieser festlichen Versammlung lautet: Der Beitrag der Katholischen Ostkirchen zur Einigung Europas aus der Sicht der Ukraine. Zunächst möchte ich mich jedoch für die Einladung zu dieser festlichen Versammlung bedanken. Ich fühle mich geehrt, an ihr teilzunehmen und hoffe, dass mein kurzer Vortrag Ihnen die Überlegungen und Gedanken zur Einigung Europas und Erweiterung der Europäischen Union nach Osten hin vom Standpunkt der Ukraine zu vermitteln vermag und Sie diese als Anregung aufnehmen könnten. Zum Vortragstitel möchte ich bezüglich des Terminus Katholische Ostkirchen zunächst eine kleine Erklärung hinzufügen. Gemeint sind die Kirchen im europäischen Osten, die aus der byzantinischen Tradition erwachsen sind, sich jedoch in voller Communio mit dem Römischen Apostolischen Stuhl befinden. Es sind Kirchen einer anderen Tradition als die lateinische, die Ihnen vertraut ist.
Die geopolitische Lage der Ukraine an der Grenze von Ost- und Westeuropa verleiht diesem Land, wenn es um die Mentalität der Ost- und Westeuropäer geht, eine Mittlerrolle. Denn gerade auf dem Gebiet der Ukraine überschneiden sich die östliche und westliche Welt, genau hier trafen im Verlauf der Geschichte die byzantinische und römisch-lateinische Welt aufeinander. Heute müssen sie eine gemeinsame Sprache finden, indem sie sich gegenseitig ergänzen und keinesfalls feindselig gegenüberstehen.
In diesem Überschneidungsraum der zwei wichtigsten europäischen Kulturen - der byzantinischen und römisch-lateinischen, des Ostens und des Westens, entstand und entfaltete sich die ukrainische Kirche der Kyiwer Tradition, die von Anbeginn die Verbindung mit Konstantinopel als auch mit Rom bewahrt hatte. Papst Johannes Paul II. hatte sie sehr treffend charakterisiert, als er davon sprach, dass die Kyiwer Rus' - "orthodox im Glauben, katholisch in der Liebe" gewesen war, weil diese zwei Begriffe "orthodox" und "katholisch" keine Gegensätze darstellen, sondern sich eher ergänzen.
Gerade diese Kirche hat sich im Verlauf der Jahrhunderte bemüht, zwischen Ost und West zu vermitteln und das Beste, was diese zwei Welten und Kulturen hervorgebracht haben, in sich zu vereinen. Das war auch der eigentliche Grund gewesen, weshalb die Hierarchie der Kyiwer Rus' 1596 in Brest ihre Communio mit dem Römischen Apostolischen Stuhl erneuert hatte. Nach der Unterzeichnung dieser und anderer "Unionen" hatten die Theologen und Historiker begonnen, von den Katholischen Ostkirchen zu sprechen.
Die Einigung Europas ist ein Thema über das heute viel nachgedacht und gesprochen wird. Ein Thema, das alle Europäer angeht: ob sie bereits Mitglieder, Mitgliedskandidaten sind oder, wie im Falle der Ukraine, Kandidaten in einer fernen Zukunft sein werden. Wichtig ist es jedoch zu betonen, dass wir alle gemeinsam bereits Europa sind.
In der ersten Hälfte des XI. Jhs. wurde die Kyiwer Rus', die Wiege der heutigen Ukraine, von einem Großfürsten namens Jaroslaw der Weise regiert (1019-54). Besonders auf dem Gebiet der Wissenschaft, Rechtsgebung und Kultur hatte er für sein Volk sehr viel geleistet, weshalb ihm das Volk auch den Beinamen der Weise verlieh. Jaroslaw der Weise hatte 12 Kinder. Durch geschickte Diplomatie war es ihm gelungen, eine Reihe seiner Töchter und Söhne in ganz Europa zu verehelichen. Eine seiner Töchter Anna wurde Königin von Frankreich, ein Sohn ging nach Skandinavien. Jedenfalls waren seine Söhne und Töchter in ganz Europa anwesend. Daher ist Jaroslaw der Weise als der Schwiegervater Europas bekannt geworden. Zu seiner Zeit gab es ein einheitliches Europa, ja, ich glaube, aus jeder damaligen Hauptstadt sah man nur ein einheitliches Europa, das geeint war.
Erst in den späteren Jahrhunderten hatte man begonnen, von Ost- und Westeuropa zu sprechen, das heißt, von einem geteilten Europa. Ein Zustand, der bis heute verblieben ist. Nun bemüht man sich, aus diesen beiden Teilen eine Einheit wiederaufzubauen.
Der Heilige Vater, Papst Johannes Paul II., hat in verschiedenen Ansprachen gemeint, daß Europa, wenn es wieder ein vollständiges Europa sein wolle, mit beiden Lungenflügeln atmen müsse, wobei er den Osten und Westen meinte. Gewöhnlich denken wir in diesen Kategorien. Vielleicht wäre es für uns ratsam, wenn wir schon diesen Vergleich aus der Anatomie benutzen, nicht zu vergessen, dass die Voraussetzung eines vollständig gesunden Körpers, dessen beide Lungenflügel gemeinsam atmen, das menschliche Herz ist, das die beiden Lungen in Gang hält.
Bereits in der fernen Vergangenheit, ja seit den Anfängen der europäischen Geschichte, die sich vom Atlantik bis zum Ural abspielte, hatte es die lateinische und byzantinische Tradition und Kultur gegeben, die vielfach mit bestimmten geographischen Gebieten unseres Kontinents identifiziert wurden und heute allgemein als Ost und West betrachtet werden. Dabei sollte nicht übersehen werden, dass diese beiden Traditionen und die aus ihnen hervorgegangenen Kulturen eigentlich christlich sind.
Das Christentum ist somit das gemeinsame Herz, das einzig mögliche Prinzip der wieder zu gewinnenden Einheit. Selbst wenn dies heute von vielen bestritten wird, sollte man sich dessen besinnen, dass die beiden erwähnten großen Traditionen christlichen Ursprungs sind. Das Christentum hat den klassischen griechischen und römischen Kulturen ein neues Gesicht verliehen. Diese Kulturen waren es, die gemeinsam unser Europa geformt haben.
Die christliche Lehre und die christliche Kultur haben Europa zu Europa gemacht. Wieso konnte Jaroslaw der Weise, dieser "Schwiegervater" Europas, sich so frei in ganz Europa bewegen? Dies war nur deshalb möglich gewesen, weil man sich in jener Zeit nirgends als Fremder fühlte. Unter einer ganzen Reihe von eigenständigen Elementen, die die echte Verschiedenheit ausmachen, gab es etwas, was allen Völkern gemeinsam war und den Bewohnern Europas das Gefühl verlieh, überall in Europa zuhause zu sein.
Im gesamten europäischen Raum besaß man die gleichen Grundwerte, die auf dem Christentum beruhten. Wenn wir von einer Einigung Europas sprechen, darf man diesen Tatbestand nicht aus den Augen verlieren. Alle anderen möglichen Faktoren, die die Einheit von Europa sichern sollen, vermögen weder ein Einheitsgefühl aufkommen zu lassen noch die Wirklichkeit eines gemeinsamen Hauses zu schaffen. Die ökonomischen, sozialen und politischen Elemente, die man auf welche Weise auch immer bei allen Mitgliedern in Einklang bringen möchte, vermögen keine Einheit zu bilden. Es gilt, die vielfältige Verschiedenheit zu bewahren, sie darf in einem künftigen Europa nicht aufgegeben werden. Gleichzeitig muss man in dieser vielfältigen Verschiedenheit, etwas Gemeinsames sehen und empfinden. Das soll nicht heißen, dass wir alle, wie in alten Zeiten, einer einzigen Kirche angehören müssen. Wir gehören heute verschiedenen Kirchen an. Im Grunde ist diese Teilung kein Vorteil, sie mag sogar für Europa als der Ausdruck einer großen geistlichen Niederlage aussehen. Doch man darf nicht übersehen, dass selbst bei unseren verschiedenen Konfessionen, denen wir angehören, uns alle die gemeinsame europäische Kultur verbindet, weil unsere geistigen Werte alle christlicher Herkunft sind. Das zu verneinen, würde bedeuten, sich von unseren Wurzeln loszusagen, sie auszulöschen und im Grunde zu verhindern, jemals in der Zukunft geistlich und geistig eins werden zu können.
Es gibt noch eine andere Überlegung, auf die ich aufmerksam machen möchte. Eine Überlegung, die mir Sorge bereitet. Sie betrifft uns selbst, die Ukraine, auch wenn sie in nächster Zukunft noch nicht als Mitglied der Europäischen Union vorgesehen ist. Sollte die Europäische Union uns einladen, Mitglied zu werden und dabei inzwischen ihrer christlichen Werten verlustig geworden sein sowie ihre christlichen Wurzeln aufgegeben haben, würde es dann noch eine Eingliederung in ein Europa sein, in dem wir uns auch heute wie vor vielen Jahrhunderten wie zuhause fühlen könnten?
Ökonomische und andere Probleme lassen sich auf irgendeine Weise regeln, dazu gibt es Verträge und anders mehr, aber wäre diese Einheit auch wirklich noch ein gemeinsames Haus? Wir würden uns gewiss fremd bleiben. Fremd sein und fremd bleiben, ohne je eine wahre Einheit geistiger und geistlicher Natur erlangt zu haben. Denn es wäre für uns eine große Gefahr, sich einem Gebilde anzuschließen, dessen Grundwerte, die einst Europa ausgemacht haben, und die bedeutend auch uns, unser Volk geformt haben, aufgegeben worden sind.
Wir betrachten uns als Vermittler zwischen Ost und West, was bedeutet, dass wir vor allem unsere eigene Identität finden und danach leben müssen. Doch wir wollen uns auch der Aufgabe widmen, dem Osten zu helfen, den Westen zu begreifen und dem Westen helfen, den Osten im weitesten Sinne dieses Wortes kennen zu lernen. Ich bin überzeugt, dass es sich dabei um eine sehr wichtige Aufgabe, um ein hehres Ziel der Katholischen Ostkirchen handelt, welche die Weltauffassung und Gestaltung des künftigen vereinigten Europa betreffen.
Zu Beginn meiner Rede habe ich meine Freude zum Ausdruck gebracht, dass ich hier unter Ihnen weilen darf. Ich möchte hinzufügen, dass diese Freude nicht nur mich persönlich betrifft. Ich freue mich, hier sein zu können, weil unter den verschiedenen Völkern, die die Europäische Union bilden, es gerade die Deutschen sind, die das Bewusstsein des christlichen Ursprungs Europas vielleicht am deutlichsten bewahrt haben. Das ist für uns von Bedeutung, denn als Europäer sind wir uns dessen bewusst, wie stark uns das Christentum geprägt hat. Wenn wir in Zukunft formell und offiziell ein Teil Europas werden und uns darin zuhause fühlen sollen, ist dies für uns von großer Wichtigkeit.
Zum Abschluss dieses bescheidenen Vortrags möchte ich noch einmal auf die Worte des Papstes zurückkommen, die er zu Beginn der neunziger Jahre geäußert hatte: "Ost und West sollen Gaben austauschen!" Viele Menschen hatten dies in dem Sinne verstanden, dass nach der Wende und dem Zerfall des kommunistischen Imperiums der durch Verfolgungen erprobte Osten dem Westen geistige Werte überreichen sollte, während der Westen, der die Chance gehabt hatte, sich frei zu entfalten und zu Wohlstand gelangte, den Osten materiell unterstützen sollte. Ich glaube, dass der Papst ein solches Verstehen des Gabenaustausches nicht gemeint hatte.
Da es um das gemeinsame europäische Haus ging, das nach vielen Jahrhunderten aufgebaut werden sollte, handelte es sich vielmehr um einen Austausch geistiger Schätze. In den letzten Jahrzehnten hatte der Osten, der unter kommunistischer Herrschaft viel Leid erfahren musste, seine christliche Kultur nicht völlig eingebüßt und seinen christlichen Glauben fast heldenhaft aufrecht erhalten. Doch auch Sie alle im Westen, die vielen Gefahren ausgesetzt waren, und teilweise vom Wohlstand versucht werden, Sie haben das Bewusstsein des christlichen Ursprungs Europas zu bewahren vermocht.
Da wir zusammen gekommen sind und in das Haus Europa wieder einziehen, es wieder beleben, um gemeinsam eine überzeugte, starke Kraft in der Welt aufzubauen, können wir uns gegenseitig mit unseren geistlichen Schätzen beschenken.
Ich schließe in der Hoffnung, dass wir einander unterstützen, einander helfen und gegenseitig echt beschenken mögen, weil wir ein gemeinsames aus Ost und West bestehendes Europa aufbauen wollen, das mit einem lebendigen christlichen Herzen ausgestattet ist.
Berlin, den 4. November 2002

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