| Pressemeldung

Ansprache von Kardinal Karl Lehmann, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, bei der Verleihung des 13. Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreises 2002 am 13. März 2002 um 18.00 Uhr im Erbacher Hof, Mainz

"Lesen ist ein grenzenloses Abenteuer der Kindheit" sagte die vor kurzem verstorbene Astrid Lindgren. Alle unter uns, die die Kinder von Bullerbü, Ferien auf Saltkrokan oder Pippi Langstrumpf gelesen haben, werden bestätigen, dass uns diese in der Kindheit miterlebten Abenteuer ein Leben lang begleiten.
Das Lesen wird dann zum Abenteuer, wenn es dem Autor gelingt, durch die Kunst seiner Worte uns Lesern neue Welten und Einsichten zu erschließen. Dann wird das Lesen zur Brücke, die uns in die noch unbekannte Welt führt oder uns das, was wir bereits längst zu wissen meinen, neu sehen lässt. So schärfen Leseerfahrungen unser Auge für den Blick nach innen und nach außen.
So gesehen müsste das Lesen bei uns als sogenannte "Kulturtechnik" einen relativ hohen Stellenwert einnehmen. Ich liebe zwar das Wort "Kulturtechnik" zur Bezeichnung des Lesens nicht, aber ich will es so vorläufig als Hinweis benützen. Die Kultursoziologie kommt allerdings zu einer etwas anderen Einschätzung als die soeben genannten, wenn sie die Interessen der Kinder und Jugendlichen nach Prioritäten auflistet:
Die bevorzugte Freizeitbeschäftigung von Kindern zwischen 6 und 13 Jahren sind mit 40 Prozent das Treffen von Freunden, 35 Prozent bevorzugen den Fernseher und immerhin wollen noch 33 Prozent am liebsten draußen spielen. Sport treiben fällt auf 18 Prozent und die Faszination für den Computer liegt bei 16 Prozent, wobei hier die schnellste Steigerung von 7 Prozentpunkten innerhalb von einem Jahr festzustellen ist. Das Lesen als "grenzenloses Abenteuer der Kindheit" lag vor drei Jahren noch bei 7 Prozent, im Jahr 2000 waren es noch gerade 4 Prozent.
Als im Dezember letzten Jahres die PISA-Studie vielen für unsere Bildung Verantwortlichen in unserem Land Schamröte ins Gesicht trieb, wurde viel über die möglichen Ursachen des Bildungsnotstandes in Deutschland diskutiert. Dass dabei der scheinbar verloren gegangenen "Kulturtechnik" Lesen eine hohe Bedeutung zukommt, liegt auf der Hand. Die Untersuchung stellt fest, dass 42 Prozent der 15-jährigen Schüler nicht zum Vergnügen lesen. Damit rutscht der Wunsch von Astrid Lindgren, dass Lesen ein grenzenloses Abenteuer der Kindheit sei, in die Utopie ab. Die Gründe sind vielfältig: Zum Beispiel ist die Einflussnahme der Eltern auf die Lesemotivation ihrer Kinder um 50 Prozent zurückgegangen, Lernorte des Lesens werden kaum erschlossen, selbst die traditionelle Schulbibliothek ist vielerorts vom Aussterben bedroht. Dieser Verlust des Lesens ist Voraussetzung für den Mangel an Lesekompetenz. Im internationalen Vergleich sind deutsche Schüler in ihrer Fähigkeit, Texte zu erfassen, weit unterdurchschnittlich. 23 Prozent der Jugendlichen verfügen nach Aussage von PISA nur noch über "elementare Lesefähigkeiten".
Was würde dazu wohl Astrid Lindgren sagen? Oder reicht das Phänomen Harry Potter aus, das Lesen als "Kulturtechnik" vor dem Verdacht des Aussterbens zu befreien?
Natürlich ist es in einer vielfältigen elektronisch und digital dominierten Lebenswelt schwierig, den Wert des Lesens zu vermitteln. Oft fehlt einfach die Zeit dazu, so dass es nicht verwundert, wenn das "Lesezapping", also das flüchtige Überfliegen von Buchseiten in kürzester Zeit zunimmt. Trotzdem bin ich der festen Überzeugung, dass Bücher, Sprache und Schrift im multimedialen Gestrüpp auch in Zukunft einen eigenen Wert haben. Das Buch wird das Medium für sprachlich verdichtete und mitgeteilte Welt-Wahrnehmung bleiben. Das bestätigen auch empirische Erhebungen, wenn Erwartungen an Bücher abgefragt werden: Gewünscht sind Realitätsbezug, Themenaneignung, Phantasieanregung und Selbstverwirklichung. Durch den Umgang mit Sprache werden eigene Vorstellungen ausgebildet. So nutzen Kinder die Geschichten und/oder Bilder ihrer Bücher, um aktuelle und alterstypische Problemlagen zu bearbeiten. Das geschieht zunächst ganz elementar zur Entfaltung der eigenen Ausdrucksfähigkeit, dann beim Finden der eigenen Rolle und später beim Erkennen der eigenen Position. Lesen trägt also im besten Sinne zur Mensch-Werdung und zum Wahrnehmen des jeweils anderen bei. Zugespitzt kann man sagen: Wenn es das Lesen nicht gibt, dann bleibt das Antlitz des anderen verborgen und das Werden am Du bleibt erfahrungsleer.
Es bleibt dabei, meine Damen und Herren, die Förderung des Lesens. Dies muss die Aufgabe aller gesellschaftlicher Gruppen sein. Hier liegt auch unser Auftrag, die Verpflichtung eines jeden, durch Lesen Erfahrungen und Weltwahrnehmung zu vermitteln, um dadurch letzten Endes Gemeinschaft zu stiften. Wir stehen in der Verantwortung, uns als Leserinnen und Leser, als Schreiber und Verleger Gedanken zu machen, was Lesen eigentlich bewirken soll.
Wie kann es nun gelingen, zu größerer Leselust beizutragen, vor allem aber, die vorhandenen Defizite zu beseitigen? Offensichtlich müssen wir vermehrte Anstrengungen unternehmen, Menschen, die nur über geringe Medienkompetenz verfügen, Wege zur Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeit zu erschließen. Die Bertelsmann Stiftung und die Stiftung Lesen, der die Deutsche Bischofskonferenz seit vielen Jahren angehört, haben vor einigen Wochen einen "PISA-Pakt unter Einbindung aller gesellschaftlichen Kräfte" gefordert. Als Kirche wollen wir uns dieser Herausforderung nicht verweigern, um die Ergebnisse von PISA zu wenden. Eltern, Kindergärten, Schulen und öffentliche Bibliotheken sind jene Bereiche, denen wir uns auch künftig verschreiben müssen.
Gerade die Angebote unserer katholischen öffentlichen Büchereien, die im Borromäusverein und im St. Michaelsbund zusammengeschlossen sind, leisten hier seit Jahrzehnten eine unerlässliche Arbeit. Es erscheint fast müßig, in einem solchen Kreis wie heute Abend die Aktivitäten der Büchereifachverbände aufzuzählen. Aber manchmal scheint mir, dass in unseren eigenen Reihen die katholischen öffentlichen Büchereien nur als Leihanstalten gesehen werden. Dabei ist es doch viel mehr, was dort geleistet wird: Bilderbuchkinos, Büchereiführungen, Veranstaltungen, die das Lesen zur "Familiensache" machen, Lesenächte und Schmökerwochen, Internetzugänge und literarische Gesprächskreise und nicht zuletzt die breitgefächerten Medienempfehlungen sind solche Initiativen, zu denen eben schließlich auch der Katholische Kinder- und Jugendbuchpreis gehört.
Die katholischen öffentlichen Büchereien, der Borromäusverein und der St. Michaelsbund sind in der gegenwärtigen Bildungsdiskussion ein guter Partner für alle, die zu konkreten Maßnahmen gegen den PISA-Trend beitragen wollen. Ich möchte deshalb Sie alle, die Büchereien und Fachverbände, Autoren und Verleger und auch uns als Diözesen und Bischofskonferenz ermuntern, die öffentliche Diskussion zum Stellenwert der "Kulturnation" Deutschland zu nutzen. Unser Beitrag zum Lesen "als grenzenloses Abenteuer" ist dabei ein Angebot, das sich sehen lassen kann.
Die katholische Kirche weiß sich in einer langen Tradition diesem Auftrag verpflichtet - der Katholische Kinder- und Jugendbuchpreis beweist dies seit 25 Jahren. 1977, als der Preis ins Leben gerufen wurde, wünschten Büchereimitarbeiter und Autoren - aufgrund der zunehmend seichten Literatur und dem Mangel an religiösem Bekenntnis - ein Zeichen von der Kirche zur Lesekultur in unserem Land. Wenn wir den Preis heute zum dreizehnten Mal verleihen, zählt er noch immer zu einer der am besten dotierten Einzelauszeichnungen auf dem Kinder- und Jugendbuchsektor in Deutschland. Die vielfältige Beteiligung an diesem Wettbewerb und Ihr Kommen heute Abend zeigen, dass wir mit diesem Engagement richtig liegen.
Es geht aber bei dieser Preisverleihung nicht nur um Kinder und Jugendliche. Es geht um die Lesekultur und überhaupt um die Gestaltung der öffentlichen Meinung, aber auch um die Verbesserung der Urteilsbildung der Menschen. Zur Medienpolitik bei der hohen Ausbreitung der neuen Medien gehören Maßnahmen der Leseförderung. Es ist ein Test auf unsere Sensibilität und Reaktionsfähigkeit. Werden wir fähig sein, auf Gefahren für unsere auf Schrift gegründete Kultur zu reagieren? Auch wenn die Schäden nicht so evident sind wie beim Waldsterben, so brauchen wir doch eine regelrechte Medienökologie. Wenn wir dies nicht beachten, verändert sich vieles unmerklich, wie es Medienwenden an sich zu haben scheinen. Eine andere Qualität der Wahrnehmung zeigt sich. Es ist auch gut, wenn wir die Frage aufkommen lassen: "Wird der Bildschirm des Computers das Buch überflüssig machen, wird Gutenbergs schwarze Revolution bald nur noch ein Abreisblatt in der Geschichte der Textverarbeitung sein?" (S. Lenz, Literatur - Ende des Gutenberg Zeitalters?, in: Was steht uns bevor? Mutmaßungen über das 21. Jahrhundert, Festschrift für H. Schmidt, Berlin 1999, S. 233) Ich bin fest überzeugt, dass die Literatur nicht am Ende ist. Nicht deswegen weil es schon Bildschirmliteratur gibt. Freilich kann es nicht folgenlos bleiben, wenn junge Leute zwar 9 Minuten am Tag lesen, aber 136 Minuten fernsehen. Es ist nicht ungefährlich, weil bei einem solchen Konsum die Sprechfähigkeit zurückgeht. Wir wissen in der Zwischenzeit auch, dass die Lesefähigkeit überhaupt dramatisch abnimmt. Aus Betrieben wird uns berichtet, dass 15% der Lehrstellenbewerber als nicht vermittelbar gelten, weil ihre Lese- und Schreibkenntnisse nicht ausreichen. Die Zahl der in der Sprachentwicklung gestörten Kinder nimmt zu. Auch wenn es dafür sicher verschiedene Gründe gibt - ein wesentlicher Grund besteht sicher darin, dass wir den vollen Blick auf die ganze Wirklichkeit behalten. Das wohlfeile Konsumentenglück kann in der Tat verdummen, wenn wir die geistige Anstrengung systematisch scheuen würden. Wir brauchen freilich den Mut zu geduldiger, meditativer Aneignung. Wir dürfen die lustvollen Anstrengungen geistiger Durchdringung nicht scheuen. Wir dürfen nicht alles der Unterhaltung unterwerfen und an ihr messen. Unsere Augen werden sonst nicht mehr in der Lage sein, Leid wahrzunehmen. Aber wir brauchen eine neue Lesekultur, gerade auch wenn wir Computertechnik und Telekommunikation täglich nützen. Wir dürfen die Ambivalenz nicht übersehen, die z.B. gerade auch beim Gebrauch der neuen Medien in der Pädagogik unübersehbar ist. "Die Schule kann die Computer nicht einfach ignorieren. Sie kann ihnen aber auch nicht einfach die Tore öffnen, bevor sie weiß, wie sie ihre alte Aufgabe an den neuen Gegenständen erfüllt. Da steht ihr noch sehr viel Nachdenken bevor. Die Computer, die in den Messehallen auf Einlass warten, nein drängen, nehmen ihr dieses Denken nicht ab." (H. von Hentig, Das allmähliche Verwinden der Wirklichkeit, S. 46) Sonst können wir Horror und Faszination, aber auch Grausamkeit der Bilder nicht bewältigen.
Lesen heißt Sichsammeln, das zum Denken führt. In diesem Sinne gehört der Gewinn und die Verteidigung der Freiheit, gerade auch des Denkens, zum Menschlichen. Gerade hier hat auch der Glaube, der den Menschen immer wieder auch vereinzelt und zur Verantwortung ruft, eine tiefe humane Aufgabe. Immer wieder müssen die Götzen und Ideologien entlarvt werden. Sonst können wir auch unsere politische Freiheit auf die Dauer nicht verteidigen. Nicht zuletzt darum muss diese Hinführung zum Lesen sehr früh ansetzen.
Wir wollen darum als Kirche Medienkompetenz von früher Kindheit an fördern und das Lesen als Kulturtechnik der Menschheit über den elektronischen Bildschirm hinaus vorantreiben. Wenn es stimmt, dass sich die "Entwicklungsfenster" für das Lesen und Schreiben etwa zwischen dem 13. und 15. Lebensjahr schließen, dann ist unsere Bemühung, Kindern das Lesen nahe zu bringen, besonders sinnvoll. Rituale des Vorlesens und des Lesens zu festen Zeiten können dann zu Oasen der Ruhe und des Geborgenseins im Alltagsstress werden, dem auch immer mehr Kinder zum Opfer fallen. Kinder erfahren trotz des auch durch die Medien vermittelten Chaos, dass es "Spuren der Engel" (Peter Berger) und bergende Ordnungen gibt.
Genau das haben Sie, verehrte Frau Bauer, eindrucksvoll vermittelt. Herr Weihbischof Renz wird dafür nachher die Preisbegründung der Jury vorlesen. Wir haben uns im Ständigen Rat der Bischofskonferenz mit Ihrem Buch beschäftigt - und sogar gelesen. Der Engel, den Sie uns nahe bringen, vermittelt nicht nur Geborgenheit, sondern Freude am Lesen und am Erschließen einer eigenen Welt.
Das gilt auch für Sie, verehrte Damen und Herren, die Sie in diesem Jahr auf die Empfehlungsliste unseres Preises gesetzt worden sind. Ihre ganz unterschiedlichen Werke sind jedes für sich eine Motivation zur Leselust. Für Ihr engagiertes Schaffen danke ich Ihnen persönlich ganz herzlich.
Mir selbst wurde durch einen Lehrer die Liebe zur Welt der Dichtung und zum Buch erschlossen. Lesen ist als Sammlung und Einkehr zur Besinnung ein wichtiges "Gegengift" zum multimedialen Gedröhn und Gehabe. Oft genügen mir wenige Seiten oder gar Zeilen, ein kurzes Gedicht. Es befreit mich, es macht weiter, es ist wirklich so etwas wie ein Vergnügen - und immer ein grenzenloses Abenteuer.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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